Walter Klier
Schriftsteller und Maler


Kolumnen

Er war beim Publikum beliebt, bei den Leuten „vom Fach“, also denen von der Germanistik nicht. Warum denn bloß? Ich denke, es war einfach der Titel seiner ersten zwei erfolgreichen Romane, „Tadellöser & Wolff“ und „Uns geht’s ja noch gold“. Die klangen irgendwie zu lustig, um als ernsthafte Literatur durchgehen zu können. Und natürlich hatte sich in den tonangebenden Kreisen durchgesprochen, dass es sich bei ihm ohne Zweifel um einen bürgerlichen Menschen handelte. Wie das meiste ist auch dies schon länger Geschichte, und 15 Jahre nach seinem Tod erscheint nun eine Biografie, die den entsprechenden Titel trägt (Dirk Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. Pantheon Verlag, München 2022, 320 S.). Dass über ihn zu Lebzeiten insgesamt drei Dissertationen entstanden, während solche Elaborate buchstäblich zu Hunderten zum Beispiel über Christa Wolf oder Heiner Müller verfasst wurden, sollte nicht zur Misanthropie, zum Kulturpessimismus verleiten, freuen wir uns, dass es jetzt dieses Werklein gibt, in dem man nicht zuletzt, bevor der Anmerkungsteil losgeht, lesen kann, was er zu dem Ende zu sagen hatte, das jedem bevorsteht. „Mit dem Ende als solchem habe ich kein Problem. Gut, mich interessiert schon, was passiert, wenn die Klappe eines Tages fällt.“ Bis zur letzten Sekunde neugierig bleiben, das wäre doch ein Ideal, dem zu folgen sich lohnte.


Seit Gerhard Polts unsterblichem Sager „Englisch ist ja heutzutag keine Fremdsprach mehr – ich sprechs ja nicht …“ ist ein Menge Wasser alle denkbaren Flüsse hinabgeronnen, und immer noch fehlt selbige Fähigkeit einer bedauerlich großen Zahl der Mit- und Weltbürger, womöglich auch den /Innen. Ganz ausnahmsweise sei auf zwei in jener exotischen Zunge abgefasste Bücher verwiesen, weil sie einfach zu gut sind. Das erste wird wohl bald übersetzt werden (Anne Glenconner, Lady in Waiting, Hodder&Stoughton, London 2019, 326 S.), denn was die Autorin hier ausbreitet, ist einer großen Zahl von Fans aus der Serie „The Crown“ aus einem anderen Blickwinkel vertraut. Die ehemalige Hofdame aus dem Umkreis der Prinzessin Margret hatte im recht hohen Alter zu schreiben begonnen, als ihr verrückter Gatte starb und sich herausstellte, dass er den gesamten Besitz seinem bevorzugten Angestellten auf dem Gut in Westindien vermacht hatte. Nach der Autobiografie schrieb sie mit Tempo und sehr erfolgreich etliche Krimis (deutsche Ausgaben bei Rowohlt), wie es ausschaut, alles in dem gutgelaunten Ton, den sie sich als geeignete Überlebensmethode in den gehobenen Kreisen angewöhnt hatte, in denen sie ihr Leben verbrachte.
Auch unser dritter ist ein unerwarteter Kandidat für das Prädikat „Lesevergnügen“. Es handelt sich um Ivar Giaever (sprich „Jever“), einen der drei Physik-Nobelpreisträger von 1973. Was macht das Leben eines Physik-Nobelpreisträgers lesenswert? Ganz einfach der Umstand, dass die Lektüre Vergnügen macht, was mit dem Titel anfängt (Ivar Giaever, I am the Smartest Man I Know. World Scientific Publishing 2016, 272 S.). Der Titel ist selber schon ein Witz. An dem Tag, als ihm der schwedische König die Urkunde überreicht, kommt er zu dem Schluss, dass er nun tatsächlich jener unter allen seinen Bekannten ist, der, amtlich bestätigt, der schlaueste ist. Dass der Weltruhm der Physiknobelpreisträger recht schnell an gewisse natürliche Grenzen stößt, erlebt er in seiner norwegischen Heimat, als er mit seinem Schwager in Oslo zu einem Fußballmatch fährt. Roald hatte 25 Jahre früher olympisches Gold im Eisschnelllauf gewonnen, der Nobelpreis war „erst“ zehn Jahre her. Sie waren etwas spät dran und fanden keinen Platz, um das Auto abzustellen. Und wen von den beiden erkannte der Polizist auf der Stelle, der am Stadion den Verkehr regelte und den sie um Rat fragten?


Extra der Wiener Zeitung, vorletzte Lieferung, Frühjahr 2023

Das Leben, ganz im einzelnen



Über den Roman "Quartett im Herbst" von Barbara Pym


Ja, ja, der Herbst. Gern wird er mit den allmählich absteigenden Lebensjahren assoziiert, und das dazugehörige Vegetationsgeschehen legt die Parallele nahe. Da gibt es ja auch schöne, gerade noch warme Abende voller Licht (wenn es auch schwindet) und einer Orgie an Farben; das sollte doch über die Melancholie des ganzen Unternehmens hinweghelfen. Barbara Pyms dritter bei DuMont jetzt wieder aufgelegter Roman handelt von vier Leuten, alle um die 60, die nichts gemeinsam haben, als dass sie im selben Büro sitzen, fünf Tage in der Woche, das ganze Jahr über. Sonst verbindet sie nichts, es wäre sehr übertrieben zu sagen, sie seien befreundet. Was sie in diesem Büro tun, erfährt der Leser nicht, nur, dass bei der kleinen Feier, die ihre Firma zum Anlass des Pensionsantritts für die zwei Damen unter den vieren ausrichtet klar wird, dass auch sonst in der Firma niemand wirklich weiß, was diese kleine Abteilung tut. Sie soll in ein paar Jahren, wenn die die zwei Herren auch pensioniert sind, ohnehin geschlossen werden. Aus diesem, vorsichtig ausgedrückt, wenig versprechenden Stoff hat Pym eine ziemlich dunkel getönte Komödie gestrickt, die sich vorderhand durch zwei Dinge auszeichnet: es geschieht darin eigentlich nichts, nämlich gar nichts, und die beim Lesen sich vorderhand einstellende Stimmung ist ein leises, aber deutliches Grauen vor solch einem Leben. Wie sie dann ganz am Ende eine Kurve kriegt, die tatsächlich im Positive, geradezu Erfreulichen landet, und wie man aus der Beschreibung von fast nichts humoristische Funken schlägt, das grenzt nicht an ein Wunder, das ist eines.

Barbara Pym, Quartett im Herbst, Roman. Übers. von Susanne Roth, DuMont Buchverlag 2021, 349 S.

Walter Klier


Extra der Wiener Zeitung 2021

Vor dem Winter


Die Hennen wuseln noch am Eingang zur Voliere herum, manche rennen wieder heraus, andere hinein, als sie mich kommen sehen, in der Annahme, daß ich etwas zum Fressen mitbringe. Ich habe nichts mit, aber jedenfalls sind sie nun alle drinnen und ich kann zusperren. Die meisten gehen durchs Türl in den Stall, ein paar bleiben heraußen in der Voliere und verbringen die Nacht auf der hier angebrachten Stange. Im Sommer sind alle heraußen, bis auf allfällige Bruthennen mit oder ohne Brut, die, um letztere zu schützen, gesondert untergebracht werden.
Heute ist einer der Abende, an denen man wieder einmal sicher zu sein glaubt, daß nun der Winter endgültig vor der Tür steht. Es hat schon am Nachmittag geregnet und dürfte ein Stück weiter oben am Berg bereits schneien. Vielleicht schneit es in der Nacht bis zu uns herunter, und wenn es dann aufreißt, gibt es einen dieser klar-hellen, weiß-blauen, bitterkalten Morgen, wo es einen schon beim Hinausschauen aus dem Fenster abbibbert. (Ein Wort mit zwei Doppel-b, eigentlich toll, daß es so etwas gibt! Ich habe es in meinem bisherigen Leben noch nie geschrieben, nur gesagt, jetzt, wo es schwarz auf weiß dasteht, finde ich es absolut apart.)
Bis zu uns auf 914 m über dem Meer (bei Triest) heruntergeschneit hat es schon Ende September, genau gesagt am 25. September, als meine Ausstellung in der Altstadtgalerie Hall eröffnet wurde, ohne Vernissage wegen der bekannten Umstände, es kamen also im Lauf des Tages, den ich in der Galerie verbrachte, insgesamt ungefähr 5 oder 7 Leute vorbei, am Ende war ich doch in ziemlich miserabler Stimmung und mein ganzes Leben erschien mir mehr oder weniger vertan und sinnlos. Wie es einem halt manchmal so geht. Mein Galerist, Hannes Niederlechner, der netteste Galerist, den man sich überhaupt vorstellen kann, führte mich noch ein Stück in Richtung trautes Heim, und auch da war es kurz nach sechs zappenduster, und gleich nebenan, an den Südhängen des Thaurer Zunterkopfs, schimmerte es schon weiß herunter. Aber trotz alledem und nicht zuletzt dank Hannes' nie versiegender Zuversicht und seinem allumfassenden Engagement wurde es insgesamt eine tolle Ausstellung, wie jeder, der dort war, bestätigt hat.
Jedenfalls ist es jetzt, um noch nicht einmal fünf Uhr, ebenfalls wieder zappenduster, und höchste Zeit, daß die Viecher in den Stall kommen, damit sie nicht der Fuchs auf seinem Abendspaziergang erwischt. Dieser Abendspaziergang führt ihn nämlich regelmäßig bei uns vorbei, da schaut er nach, ob wir nicht vielleicht doch die Stalltür offengelassen haben, oder eine Henne übersehen, die sich dann im Dunkeln aus einem Strauch herausklauben läßt.
Abgesehen von den diversen Sorten Geier, die mit vergleichbaren Absichten bei Tageslicht ihre Aufwartung machen, bedroht die Hennen eigentlich nur der Tod von unserer Hand, die wir sonst weiß Gott was aufführen, um sie zu schützen, zu nähren und sonstwie zu umhegen. Und zwar dann, wenn sie allzu alt geworden sind, also seit Jahren nichts mehr legen oder so gut wie nichts, bereits Fuß-, Bein- und sonstige Beschwerden aller Art haben, also auch der wohlverdiente Lebensabend im Grunde hinter ihnen liegt. Irgendwann erreichen wir nämlich den Punkt, an dem die Überaltung die Veranstaltung "Hennenstall" so ziemlich ins Absurde kippen läßt, wenn nämlich kein Schwein mehr etwas legt, bei andererseits unvermindertem Appetit, also ungefähr der Grad an Überalterung, den das gute alte Europa auch bald erreichen wird.
Irgendwann, nach Monaten und Jahren des Zauderns, wird dann eines Abends beschlossen, daß eine oder zwei unserer Ältesten dran glauben müssen und ins letzte Stadium des artgerechten Lebens, das der Suppenhenne, wechseln dürfen. Dabei gibt es unter Umständen Überraschungen wie das auf obigem Foto sichtbare Geschwür, oder was es denn sein mag, das beim Ausnehmen ans Licht gekommen ist und uns dazu bewog, die prospektive Suppenhenne zu gegart zum Katzen- und Hühnerfutter umzuwidmen. Die Hennen selber sind nämlich recht unsentimental, was den Verzehr ihrer Artgenossen anlangt.


Alpenfeuilleton, 27.11.2020


 


 


Vor dem Winter 2

Bei allem, was man tut oder nicht tut oder anders als sonst tut, sagt man jetzt "coronabedingt". Obwohl alle, die ein bißchen etwas hermachen wollen, nicht "Corona", sondern "Covid-19" sagen (die Krankheit heißt Covid-19, Corona ist ja bloß die Familie oder Ordnung oder was immer, der das Virus angehört, du Dödel!), sagen dann, wenn sie etwas tun etc., "coronabedingt" und nicht "covid-19-bedingt". Und dabei sind es weder das Viruschen noch das Grippchen, die das Tun bedingen, sondern die Große Angst.
Wegen der Großen Angst also sind wir Mitte März verfrüht in unser Haus im Wald gezogen, und aus dem selben Grund sind wir nun auch hier geblieben. Normalerweise (oder "normal", wie der Tiroler sagt) wohnen wir hier von Ostern bis Allerheiligen, und das war mehr oder weniger schon immer so, seit ich selber ein Kind war. So lang wie im heurigen Jahr bin ich noch nie, und ist auch sonst niemand aus der Familie je hier gewesen. Da die Kinder während all der Zeit nicht oft in der Schule waren, hält sich auch das Auf- und Abgefahre in Grenzen, und bis vor ein paar Tagen kamen wir in den Genuß eines tirolischen Bilderbuchherbstes. Ein alter Freund der Familie, der in Wien lebt und dort alle Jahre wieder unter dem Herbst- und anschließenden Winterhochnebel leidet, machte sich unter einem Vorwand los. Für einen Nachmittag stattete er uns in unserer Waldeinöde einen Besuch ab. Tags darauf schlug das Wetter um, und er kam in den Genuß von etwas ganz Seltenem: dichtem Hochnebel über Innsbruck. Er kämpfte sich am Nordkettenhang bergan, und immerhin gelang es ihm, etwa in Höhe der Höttinger Alm ins Reich der Sonne durchzustoßen. Für solches ist der Stephansdom dann doch zu niedrig.
Jedenfalls wird es hier im Wald jetzt richtig still. Wo es sonst auf dem Weg unterhalb unserer Wiese immer betriebsam zugeht, sieht man stundenlang – niemanden. Die Kinder haben ziemlich viel Unterricht, wenigstens das scheint besser zu funktionieren als im Frühjahr. Vom Briefträger abgesehen, der zwischen 9 und 10 am Vormittag aufkreuzt, treffen wir tatsächlich tagelang keinen Menschen. Bloß gestern kam überraschend Besuch. Es war gegen 6, also stockfinster. Ich saß beim Schreiben im oberen Stock, da ertönte die Klingel an der Haustür. Sie erklingt zu jeder Jahreszeit äußerst selten, denn meistens hört und sieht man allfällige Eindringlinge schon vorher und zeigt sich. Ich eilte hinunter (wer mag das sein?), und in der Finsternis sah ich zuerst ein ziemlich großes Lieferauto und dann erst einen ziemlich kleinen Mann, der unmittelbar vor mir stand und mir ein sehr kleines Paket in die Hand drückte. Ich versuchte die Adresse zu entziffern, er sagte bloß: "GLS." Dann sah ich erst, daß das große Lieferauto vom Schotterplatz, auf dem die Autos normalerweise stehenbleiben und umdrehen, weiter auf den Rasen direkt am Haus vorgedrungen war. Auf dem Auto stand in großen Lettern, was er gerade gesagt hatte, und darunter kleiner ein Name, den ich am ehesten für rumänisch halten würde.
Ich sagte, "Da bist du ein Stück zu weit gefahren, besser hättest du dort oben umgedreht."
Er sagte nocheinmal "GLS", dann stieg er ein.
Der Rasen liegt um einen halben Meter tiefer als der Schotterplatz, deshalb gibt es dazwischen ein sanftes Gefälle bzw. eine sanfte Steigung, die er nun mit seinem großen Auto in Angriff nehmen würde. Er wendete auf dem Rasen, dann blieb er in der kleinen Steigung hängen. Ich fuchtelte vor dem Seitenfenster herum und rief, "Hast du schlechte Reifen? Du mußt noch ein bißchen zurückfahren ins Ebene, dann geht es vielleicht." Dann ging ich ins Haus, um meine Frau zu holen, die oben an ihrem Schreibtisch gerade telefonierte, damit sie mir vielleicht mit dem Anschieben helfen würde. Währenddessen hörte ich das schwere Motorengeheul-und-Räderdurchdrehgeräusch, das darauf schließen ließ, daß "GLS" jetzt das kleine Rasenstück mit seinen schlechten Reifen durchpflügte. Bis wir allerdings drei Minuten später unten vorm Haus im Finstern standen, hörten und sahen wir ihn nur noch unterhalb der Wiese durch den Wald davondüsen.
Man ist mit diesen Fahrern immer per du, was am Land ja unter allen Leuten üblich ist, aber es liegt auch daran, daß man nicht weiß, ob sie einen denn verstehen oder nicht, und kaum hat man es gesagt, kommt man sich wieder irgendwie rassistisch vor. Keine Ahnung, wie man sich in dieser Lage politisch korrekt verhält.


Alpenfeuilleton, www.afeu.at, 4.12.2020

Atmen im Freien


Offenbar soll jetzt schon wieder (wie in diesem Frühjahr) der Mensch daran gehindert werden, an die frische Luft zu gehen und dort womöglich in Gruppen herumzusitzen. Unsere so fürsorgliche Stadtregierung hat sich anfang der Woche schon aufgepudelt über Menschenmassen auf den Almen und daß das jetzt nicht so weitergeht, sonst! Und auch auf der Inn-Ufer-Mauer sollen diese Studenten gefälligst nicht so in Rudeln herumsitzen und durch dieses ihr Sitzen öffentliches Ärgernis erregen.
Nun gut, es sollen ja alle nach Kräften mithelfen, daß unser totaler Krieg gegen das Virus in einem ganz hervorragenden Sieg, ja was denn, endet eben. Da bin ich voll dafür, um nicht zu sagen volle. Nur würde ich, da Anhänger evidenzbasierter Wissenschaft, gerne in Erfahrung bringen, wo sich denn die mörderischen Alm-Cluster und Ufermauern-Hotspots aufhalten, mir ist nämlich noch keiner über den Weg gelaufen. Kann mir da jemand Hinweise geben, wie man sich die heimtückische Ansteckung an einem Tisch im Freien auf einer Alm vorstellen soll? Ich war am Sonntag selber auf einer solchen, und außer mir waren sicher 20 oder 30 andere Leute dort. Ich habe sie mir alle sehr genau angeschaut, was sie tun und lassen, dort oben auf der Alm. Ich frage mich immer noch, worin hier allfällig ansteckendes Verhalten bestanden haben könnte. Vielleicht hilft mir jemand aus der verehrten Leserschaft weiter.
Im Grunde erscheint es mir auch herunten in der Stadt, selbst auf einer belebten Straße der Innenstadt, außerordentlich unwahrscheinlich, daß sich dortselbst Leute anstecken, die einfach nur in einer gewissen Entfernung aneinander vorbeigehen. Heute vormittag sah ich zwei Polizisten, die vermutlich Dienstanweisung haben, so – gewissermaßen doppelt kostümiert – die Straße entlangzumarschieren. Mir taten sie leid, und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie mit dem Fetzen vorm Gesicht irgendwelche schwierigeren Amtshandlungen unternehmen müssen. Oder gar einem Dieb oder sonstwie gesuchten Übeltäter nachlaufen! Da wenigstens, so hoffe ich, dürfen sie das Ding dann ablegen, damit sie noch Luft kriegen. Oder würde selbst in einem solchen Fall der Kampfauftrag gegen das Virus vorrangig zu behandeln sein?


 


Alpenfeuilleton, 13.11.2020, https://www.afeu.at/meinung/2020/11/18815/atmen-im-freien/

Die neue Kreissäge


Lange Zeit wunderte ich mich jedesmal beim herbstlichen Holzschneiden, daß die alte Kreissäge immer noch funktionierte. Sie ist fast so alt wie ich. Als meine Eltern das Haus im Wald kauften, 1956, war sie noch nicht da gewesen, und drei Jahre später, als der Papa einen Literaturpreis bekam und – hört, hört! – der Orf Tirol zu uns herauf anrückte und ein paar Meter Film über das Leben der Innergebirgs-Heimatdichter tief im Wald und fern der Zivilisation drehte, war auf diesem Schnipsel Film eben neben dem Herrn Papa auch die Kreissäge zu sehen, mit der er, für einen Literaturbeitrag dramaturgisch gewagt, ein Brett abschnitt.
Ich finde, daß das für ein Elektrogerät doch ein respektables Alter ist. Schon die ganzen letzten Jahre, ein oder zweimal im Jahr, wenn Brennholz geschnitten werden mußte, hielt ich den Atem an, bis sie jedesmal brav und unverdrossen wieder in Schwung kam, kaum hatte man den Einschalthebel umgelegt. Allerdings hatte es, genaugenommen seit etwa vier Jahren, ein leicht röhrendes, leicht scheppriges oder auch schabendes Geräusch aus dem Bereich der Welle gegeben, oder wie man den Teil nennt, der Treibriemen und Sägeblatt verbindet, nicht laut, im Gegenteil so leise, daß man es, wenn man mit ihr nicht vertraut war, wahrscheinlich gar nicht bemerkte, aber eben doch ein bißchen beunruhigend.
Diesmal nun, wie üblich spät im Jahr an einem tiroler Herbsttag, so überirdisch strahlend klar, wie es sich gehört, steigerte sich wenige Minuten nach dem Start dieses Geräusch zu etwas sehr Lautem und sehr Unangenehmem. Es war genau so, wie Maschinen tönen, wenn sie nicht mehr wollen oder nur noch das eine, daß man sie nämlich umgehend abschaltet, andernfalls etwas Unangenehmes passiert oder sie ihren Betrieb ganz einfach einstellen. Das wollte ich nicht so genau herausfinden und schaltete sie gleich ab, und weil es, so weit ich die Welt kenne, ziemlich aussichtslos ist, ein solches Gerät noch einmal reparieren zu wollen, mußte wohl oder übel ein neues angeschafft werden.
Abgesehen davon, daß so ein Ding 100 Kilo wiegt und sich nicht leicht bewegen läßt, bietet das keine besondere Schwierigkeit. Es kostet auch nicht die Welt, sondern nur eine halbe, und so stand dank der Tat- und Muskelkraft und dem Lieferwagen eines befreundeten Klein-Bauunternehmers, das schöne Stück drei Tage später auf dem Vorplatz, in frischlackiertem Orange glänzend neben seinem Vorgänger. Vor dem Kauf hatte ich mich über die verschiedenen Modelle, Preise, Kundenkommentare und dergleichen orientiert, und bei dem favorisierten Modell eine Bemerkung gefunden, das Ding sei nicht leicht zusammenzubauen. Auf die Frage an den Verkäufer, wie sich das mit dem Zusammenbauen verhalte, meine er bloß, "Da sein lei die zwoa Radln zum Anschraufen, sonscht nix". Viel mehr war es auch nicht, ungefähr vier Teile waren mit insgesamt dreimal so vielen Schrauben am Gerät zu fixieren, und der Vorgang war genau so mühsam und zeitraubend, daß man sich fragte, warum, um alles in der Welt, in der ordentlichen deutschen Fabrik, wo schon vorher alle anderen Bestandteile zusammengeschweißt und geschraubt worden waren, nicht in einem letzten kurzen Arbeitsgang auch das noch erledigt worden war. Was kann das für einen Grund haben?
Da fiel mir das Erste Gebot von Ikea ein, das offenbar auch dieser brave deutsche Kreissägen-Fabrikant einzuhalten versuchte: Waren müssen in Teilen geliefert werden, die der Kunde dann selber zusammenbauen muß. Dieses Gebot, wie es die Art der Gebote ist, wird nicht weiter begründet, hat aber seinen tieferen Sinn. So wird der Kunde, der Stunden mit dem Zusammensetzen eines schlichten Regals verbracht hat, bis dieses endlich steht, eine innigere, ja geradezu intime Beziehung zu dem Regal entwickeln, was sonst nie der Fall sein könnte, wenn es bloß jemand anliefert und in das Eck stellt, wo der Käufer es haben will.


Alpenfeuilleton, 6.11.2020, https://www.afeu.at/gesellschaft/leben/2020/11/18776/die-neue-kreissage/

Unser heuriger Klimanotstand



Wie üblich wollte ich auch diese Woche meinen Senf zu den großen Fragen der Menschheit bzw. über den Sinn des Lebens hier zum besten geben – doch da kam mir der heurige Klimanotstand dazwischen.
Wie Sie ohne Zweifel wissen, wurde – um der weltweit wütenden Klimakatastrophe auch hier in Innsbruck am grünen Inn Herr zu werden (oder vielleicht Frau) – vom Gemeinderat vor eineinhalb Jahren der oben erwähnte Klimanotstand ausgerufen. Später, als irgendwelche Touristiker anfragten, ob man noch ganz dicht sei, wie man die Fremden in eine Stadt locken wolle, in der so ein Notstand herrsche, hat man, glaube ich gesagt, es sei nicht so gemeint oder es sei mehr im übertragenen Sinn gedacht gewesen, jedenfalls – das Foto beweist es schlüssig: hier und heute, nur 300 Meter über der Stadt, herrscht er bereits, der Notstand. Und nicht nur das: wir haben ihn schon länger, als irgendwelche obergescheiten Klimaleutchen in der Stadt es wahrhaben wollen, nämlich seit Menschengedenken.
Nicht gerade alle Jahre, aber doch alle drei, vier Jahre wieder im Herbst wachen wir eines Morgens auf, und – die Wiese ist voller Schnee! In aller Regel sind noch einige Viecher auf der Wiese vor dem Haus, die für einen kleinen Viehbestand als Niederleger fungiert. Und diese Kälbchen oder Kühlein stehen dann mit ihren Hufen, recht unangenehm berührt, im Schnee herum, haben zu kalt, aber in erster Linie haben sie nichts zu fressen, weil das, was sie normalerweise fressen, sich nun unter dem Schnee befindet und man es auf die unter Kühen übliche Weise nicht mehr so recht zu fassen kriegt.
Also fangen sie an, recht unruhig zu werden, und nachdem der Schnee inzwischen auch die Bänder des Elektrozauns mehr oder weniger zu Boden gedrückt hat, wandern sie herauf zum Haus, in der Hoffnung, dass sie von uns etwas zu fressen kriegen oder vielleicht nur, damit sie ein bißchen eine Ansprache haben. Nun haben wir zwar auch selber Heu, aber nur so viel, wie die Hennen das Jahr über für ihre Legenester brauchen, und das ist, wenn man es mit dem Appetit einer Kuh anschaut, eher wenig. Wie auch immer, wir schütteten ihnen vorderhand zwei Körbe voll auf den ebenen Platz vor dem Haus, und da sehen Sie mich auf dem Foto, während sie fressen und ich ihnen gut zurede, auf daß sie nicht die ganze Gegend zertrampeln möchten und daß ihr Herrl eh bald käme und was zu fressen brächte und sie dann auch bald nach Hause mitnehmen würde.
Und so geschah es auch.


Alpenfeuilleton, 30. 10. 2020, www.afeu.at

Die zwei Ungedruckten



Eine Art Abschied


Stefanie Holzer und ich haben von Anfang 2002 bis Ende 2019, also 18 Jahre lang, immer abwechselnd, wöchentlich eine Glosse für die "Tiroler Tageszeitung" geschrieben, insgesamt also irgendwas zwischen 800 und 900 Stück. Zunächst liefen sie unter dem Titel "Heiter bis grantig", später hießen sie "Gastkommentar". Mit Ende Dezember 2019 sind wir eingespart worden, denn, wie wir alle wissen, die Zeitungen müssen sparen, mit Print verdient man kein Geld mehr und mit Online noch nicht, Redakteure sind sehr teuer und werden immer teurer, je älter sie werden, und freie Mitarbeiter sind zwar nicht teuer, aber im Gegensatz zu den Redakteuren kann man sie wenigstens loswerden, damit man die Redakteure noch eine zeitlang weiter zahlen kann.
In all der Zeit sind eigentlich nur zwei Glossen ungedruckt geblieben, "weil das so nicht geht" oder so ähnlich, "das Argument ist zu wenig differenziert", was bei einer Länge von 1600 Zeichen ja ein ziemliches Kunststück wäre.
Vielleicht interessiert es den einen oder anderen, was in einer soweit durchaus seriösen Regionalzeitung nicht gedruckt werden kann.

TT-Sonntagsglosse für 21.5.2017


In den Inn mit ihnen


Ich ging durch die Altstadt. Ein warmer, heller Vormittag im Mai, eine Ahnung von Sommer und Sorglosigkeit. Die Lieferanten hummelten herum, die ersten Stadtbesichtigungskohorten zogen los und starrten brav auf das Goldene Dachl, ohne doch dessen Geheimnisse auch nur zu ahnen oder das barbusige Fräulein, das als Kunst am Bau aus dem Jahr 1500 die Westseite ziert, zu bemerken. Gutes Brot hatte ich eingekauft und einiges andere und strebte nun nachhause. Die Welt war sichtlich in Ordnung.


Da betrat ich eine ältere Dame mit Hündchen, bürgerlich gekleidet, die dabei war, eine ältere Bettlerin zu beschimpfen. Es war eine aus der Truppe, die seit einiger Zeit unsere Stadt bettlerisch beackert. Die längere Ansprache der Dame, in der viele schieche Wörter vorkamen, gipfelte in dem Satz: "Es kherts in Inn!"
Wie sorglos doch die Leute mit ihrer Wut umgehen, dachte ich, kein Gedanke daran, dass diese Idee der Bettlerbeseitigung sich als nächstes gegen eine andere Gruppe wenden könnte, zum Beispiel gegen ihre eigene, die Alten, die immer mehr werden, nichts arbeiten und uns allen auf der Tasche liegen. Sitzen wir nicht alle zusammen in einem großen Glashaus?
Wir brauchen doch die Bettler, als täglich erneuerte moralische Gymnastikübung, die uns in unserem rundum sorglosen Leben etwas an die Schicksale denken lässt, die uns erspart geblieben sind. Ich zum Beispiel würde nicht gern als Elendsdarsteller an der Straßenecke knien. Aber diesen profimäßig durchorganisierten Bettelkonzern mit meiner Spende mitzufinanzieren, dazu habe ich auch irgendwie keine Lust.

TT-Sonntagsglosse für 8.12.2019


Eine Preisfrage


Eines Morgenjournals war wieder einmal von vielerlei Flüchtlingen die Rede. Diesmal kamen sie aus Afghanistan, Syrien und Gambia. Also aus allen Himmelsrichtungen. Am traurigsten war die Geschichte von den Migranten aus Gambia. Die kamen gerade bis Mauretanien, und von dort wäre es noch sehr weit bis zu uns gewesen. Auch aus dem hungernden Simbabwe würden sie wahrscheinlich gerne kommen, wenn sich das technisch machen ließe. Manche wollen lieber nach Schweden, andere lieber nach Deutschland, und angeblich wollen manche sogar nach England, trotz dem schrecklichen Brexit. Sie wollen also aus aller Welt zu uns, und zwar genau in unser schnuckeliges kleines Mittel-, West- und Nordeuropa, sonst nirgendwohin. Man hört nie davon, dass absurd reiche Länder wie Saudiarabien oder moderat wohlhabende wie Argentinien irgendwelche Flüchtlinge aufnähmen oder dass solche dorthin strebten.
Ohne Zweifel kommen alle diese migrantischen Personen aus Ländern, in denen das Leben alles andere als ein Spaß ist. (Sagen darf man das aber nicht, sonst ist man islamophob oder hat etwas gegen die Dritte Welt, die jetzt korrekt "Welt" heißt, wenn sie nicht inzwischen wieder umbenannt worden ist.)
Immer dann, wenn man die Geschichte eines Einzelnen hört oder liest, ist der erste Reflex: der arme Kerl, lasst ihn doch in Gottes Namen da bei uns herein. Nun stehen aber potentiell ein paar hundert Millionen arme Kerle irgendwo auf der Welt herum und wollen bloß das eine: zu uns kommen. Auf jeden hier schon länger Aufhältigen kämen ein, zwei oder gar drei Neue. Die Preisfrage lautet: Wie soll das gehen?



Der Weihnachtsfrieden des Glossisten


Der Weihnachtsfrieden sollte ungefähr ab heute, da Sie also diese Zeitung in Händen halten und zu lesen beginnen, in Ihrer und unser aller Seelen Einzug halten. Ich meine das ausnahmsweise gar nicht satirisch, sondern ganz nüchtern und ernst. Gerade als Glossist kultiviert man ja, im Dienste der allgemeinen Meinungsbildung und des Wettstreits der Ideen, eine Art von innerer Zerrissenheit, die beim Leser, so hofft man, dann Zustimmung oder Ablehnung, im besten Fall ein beifälliges Gelächter oder ein Aha-Erlebnis bewirkt.
 Selber bleibt man derart in steter Unruhe, wenn man wieder einmal den Eindruck hat, der Zeitgeist schlage besonders hohe, weite und resche Kapriolen, denen man beim besten Willen seine Zustimmung nicht geben kann, während das werte Publikum diese offenbar für völlig normal und mit dem gesunden Menschenverstand durchaus vereinbar hält. Beispiele hiefür werde ich mir an dieser Stelle verkneifen, denn wir wollen ja den Weihnachtsfrieden anstreben. Selbiger ist nur gewährleistet, wenn jeder einzelne diesen Zustand in sich herzustellen versucht, wozu in erster Linie gehört, seine nähere Umgebung, Familie, Freunde oder Arbeitskollegen wenigstens vorübergehend vor den eigenen fixen Ideen zu verschonen und den anderen, wenn sie "wieder davon anfangen", ein mehr als nachsichtiges, nämlich ein ruhiges, freundliches Lächeln zu schenken und etwas Nettes zu sagen. Und das, nämlich Lächeln und Nettigkeit, sollte auch noch einigermaßen überzeugend daherkommen. Ich weiß, das ist ganz schön viel verlangt. Aber wenn man es übt, wird es mit der Zeit leichter.


Tiroler Tageszeitung, 22. 12. 2019

 Über das Anecken


Wir sind Nobelpreisträger! Nicht gerade Papst, aber schon fast so gut. Das allgemeine Wohlgefühl über die weltbeste Dichter-Auszeichnung für Peter Handke wird allerdings durch einen politischen Fehltritt getrübt. Der ist dem Meister in den neunziger Jahren passiert, als er im Zuge der jugoslawischen Katastrophe gegen alle anderen die Partei der Serben ergriff und dabei blieb und auch noch das eine oder andere Buch darüber schrieb.


Nun kann man über den literarischen Wert, die Bedeutung des handkeschen Schreibens verschiedener Meinung sein. Das ist im Grunde immer so, und in diesem Fall habe ich wenigstens einen, der meine etwas vom Mainstream abweichende Meinung teilt. Im neuen Buch des Kärntner Kollegen Egyd Gstättner steht zu lesen: "Und ich bin wieder ganz ehrlich erschüttert, welchen Käse dieser Mensch schreibt … Nebelsuppe für Nierenkranke im Endstadium!"


Peter Handke hat sein Leben lang die Kunst des Aneckens kultiviert und immer wieder einmal einen Skandal geliefert, und das hat ihm durchaus genützt – bis auf das eine Mal. Vom Schriftsteller wird ja geradezu verlangt, sich in Widerrede zu üben. Das nennt man dann "kritisch", und alle sind ganz ergriffen. Wenn die Widerrede aber so richtig in die falsche Kehle kommt, wird er gnadenlos niedergemacht, und es wird auch nichts vergessen oder verziehen. Ist er schon berühmt genug, dann kann er nicht umstandslos in den Orkus entsorgt werden, sondern es kommt ein Pallawatsch heraus wie jetzt gerade mit Peter Handke, der gern über Tolstoi und Homer reden möchte – und alle schreien ihn bloß an: "Serbien! Serbien!"


 Tiroler Tageszeitung, 20.10.2019


 


 


 

Leben mit F11 und F70


Seit vier Jahren haben wir eine neue Geschirrspülmaschine. Da ist schon die Frage, ob man sie noch mit Fug als "neu" bezeichnen kann. Angeblich bauen die schurkischen Fabrikanten heutzutage in ihre Geräte ein kleines schadhaftes Teilchen ein, zu dem Behuf, dass selbige Maschine genau einen Tag nach Ablauf der Garantiefrist ihren Geist aufgibt. Aber wir haben eine von den teuren, die angeblich sogar noch wirklich in Deutschland gefertigt werden, und dazu so cool, dass man sie erst öffnen muss, um zu sehen, ob sie noch wäscht oder schon fertig mit dem Waschen ist. Da hat man jedesmal den Nervenkitzel, ob einem nicht eine ungewollte Flut um die Knöchel spritzt …
Neulich sickerte es mehr, und das eher seitlich, beim Abflussrohr; das war kein erfreulicher Anblick. Um eine lange Geschichte von Kundendiensten, Gebrauchsanweisungen und Internetforen kurz zu machen: erstaunlicherweise kriegten wir das Ding wieder flott, ohne dass ein Fachmann persönlich sich zu uns bequemen musste. Heureka! hieß das früher. Die Maschine spülte wieder.
Sie spülte drei oder vier Mal. Dann war Fehler F11 wieder da. Sie pumpte am Schluss nicht vollständig ab, man musste ein bißchen Lauge herausschöpfen und dann eine Art Ventil herausnehmen, durchspülen und wieder einsetzen. Dann spülte sie wieder, diesmal vier oder fünf Mal. Dann … naja, man gewöhnt sich, und so schlimm ist es gar nicht. Andere haben viel ärgere Probleme. Und immerhin ist F70 nicht mehr aufgetreten!
Tiroler Tageszeitung, 3.11.2019

Auf der Welt ist bald wieder Platz


Es ist interessant, an sich selber zu beobachten, wie ein neues Stück Information den Blick auf die Welt verändert. Anfang dieses Jahres fand ich eine Buchbesprechung zum Thema der weltweiten Bevölkerungsentwicklung und schrieb auch eine Glosse darüber. Vor kurzem war in der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" davon ausführlich die Rede, dass die Weltbevölkerung noch ungefähr 40 Jahre ansteigen und anschließend wieder sinken wird. Irgendwo bei neun Milliarden ist Schluss; mehr werden wir nicht mehr.
Seit ich das weiß, vergeht kein Tag ohne Nachrichten, die auf dieses Thema Bezug nehmen, ohne es allerdings zu benennen. Das fängt bei der Meldung an, dass die Gemeinde Serfaus, ein höchst erfolgreicher Tourismusort, keinen Nachwuchs mehr hat. Die Kinder ziehen alle weg. Ein Dorf in Südkorea schickt seine ganz Alten in die Schule; sonst müsste diese zusperren, Kinder gibt es keine mehr. Eine Region in Süditalien macht weltweit bekannt, dass sie Zuwanderer braucht. Die Hauptstadt von Moldawien hat in den letzten 20 Jahren 200.000 von ihren 700.000 Einwohnern verloren. Undso weiter undsofort.
Ich merke immer wieder, wie sehr die bisher dominierende Nachricht, dass die Welt nämlich bevölkerungsmäßig aus allen Nähten platzt, alles, was geschah, in ein merkwürdig düsteres Licht getaucht hat. Obwohl sich aktuell nichts geändert hat, scheinen die Probleme, die es gibt, plötzlich nicht mehr so gigantisch. Und bis dann die Panik ausbricht, dass wir jetzt endgültig aussterben, weil kein Mensch mehr Kinder kriegt, können wir das Gefühl genießen, dass auf der Welt wieder Platz ist.


Tiroler Tageszeitung, 8.12.2019

Von der Zukunft des Automobils


"Österreich muss pro Jahr 156.000 Autos mit alternativen Antrieben auf die Straße bringen, sonst drohen Milliardenstrafen." So konnte man kürzlich in dieser Zeitung lesen. Dem Beitrag war auch zu entnehmen, dass hierzulande erst insgesamt 30.000 E-Autos unterwegs sind (von insgesamt 4,9 Millionen). Trotz gewaltiger Propaganda-Anstrengungen ist es offenbar nicht gelungen, die Österreicher zum freiwilligen Ankauf der neuen Technologie zu bewegen. Was wird also geschehen, um die "Milliardenstrafen" zu vermeiden? Wird der Bürger gezwungen, und wenn ja, wie? Wer schreibt was vor, und wem? Und wer schickt dann die Vorladung? Oder verlassen wir uns auf private Denunzianten?
Waren vielleicht die Rauch- und Plastiksackerlverbote nur die ersten Vorboten einer netten grünen Diktatur, die uns in Zukunft beglücken wird? Ich versuche mir das ein wenig vorzustellen. So zum Beispiel unser Auto. Das kommt ein wenig in die Jahre, in absehbarer Zeit werden wir ein neues brauchen. Wird mir der Händler dann sagen: Die Diesel sind für heuer schon aus, es gibt nur noch elektrische? Oder lassen wir das Los entscheiden? Was, wenn ich lieber einen Gebrauchtwagen kaufen würde?
Und an wen werden die erwähnten "Milliardenstrafen" überwiesen? Das hatte man vergessen in den Artikel hineinzuschreiben. Wie ich den Betrieb kenne, wird es wieder die gute alte EU sein, oder war es der Weltklimarat? Beides sind Vereine, aus denen man nicht austreten kann, oder jedenfalls nur sehr schwierig, selbst wenn man zu dem Eindruck käme, dass sie ziemlichen Unfug treiben. Ein bisschen wie die Mafia, nur höflicher.


Tiroler Tageszeitung, 17.11.2019

Ab wann darf man was?


Ich war 18 oder 19, als ich zum ersten Mal wählen durfte. Volljährig hieß das damals, ein Begriff, der heute kaum noch verwendet wird. Vom Religionsunterricht durfte ich mich schon mit 15 abmelden, die Regierung Kreisky hatte es gerade rechtzeitig in ihrer großen Weisheit möglich gemacht.


Damals kam also etwas in Bewegung, das gerne mit "Jugendkult" bezeichnet wird und auf Deutsch ungefähr sagen will: Die Alten sind blöd und wissen längst nicht mehr, wo vorne und hinten ist, den Jungen aber gehört nicht nur die Zukunft, sie dürfen auch so weit wie möglich darüber entscheiden. Einen skurrilen Höhepunkt haben die Anbiederungsübungen an die Heranwachsenden diese Woche gefunden, als Greta Thunberg vor dem amerikanischen Kongress redete und die Abgeordneten aufrief, auf "die Wissenschaftler" zu hören.


Mit 16 darf man bei uns wählen, bald darauf autofahren, aber wehe, man trinkt in diesem Alter ein Schnapsl oder zündet sich eine Zigarette an, Gott bewahre! Das darf niemals sein! Das ist doch viel zu gefährlich! Gut, beim Autofahren könnte man sagen, das wird demnächst ohnehin automatisiert oder überhaupt abgeschafft, und wenn Wahlen falsch ausgehen (nach Meinung derer, die die jeweilige Wahl verloren haben), dann gelten sie eben nicht und das doofe Volk darf noch einmal wählen gehen. Aber insgesamt scheint mir doch, dass in der Frage der Volljährigkeit eine gewisse allgemein gesellschaftliche Geistesverwirrung um sich gegriffen hat. Vielleicht wäre das angebracht, was seinerzeit der Kanzler Sinowatz in der Frage der Hainburger Au ausgerufen hat: eine Nachdenkpause.


Tiroler Tageszeitung, 22. 9. 2019


 


 

Österreichisch für Fortgeschrittene


Personalfragen bei der Österreichischen Nationalbank interessieren mich normalerweise eher weniger. Bloß wirkte es irgendwie penetrant, wie in den stündlichen Nachrichten auf Ö1 beharrlich darauf hingewiesen wurde, an dem neuen "FPÖ-nahen" Nationalbank-Gouverneur "reiße die Kritik nicht ab". Dieser, wie es ein andermal hieß, "parteifreie, aber FPÖ-nahe" Herr habe versucht, eine Dame im Alleingang aus der Firma zu werfen, die neben einem zweiten den schönen Familiennamen Konrad führt. Sie ist die hochbegabte Tochter eines sehr langjährigen österreichischen Bankchefs, der zugleich bedeutendes Mitglied einer der zwei Parteien ist, die ehedem Österreich unter sich aufgeteilt hatten.


Direktoren der Nationalbank waren bisher die Herren Raidl und Kothbauer, schwarz und rot, Gouverneur der Herr Novotny, nicht nur rot, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten durch seine verschiedenen Parteiämter bekannt. Ob seine Funktion als Direktor der Bawag/Psk eher als politische oder wirtschaftliche zu sehen ist, wollen wir dahingestellt sein lassen, es war wohl auch nicht direkt lustig, dem altehrwürdigen Institut vorgesetzt zu werden, während es gerade im Zuge einer sogenannten Affäre den Bach hinunter ging. Wenigstens verdanken wir diesen Ereignissen das Zitat: "Das Geld ist nicht weg, es ist nur woanders." (Wolfgang Flöttl)


Zugegeben, die Nachrichten im Radio bekämen eine etwas monotone Note, wenn immer bei jedem dazugesagt würde, welche Partei ihn geschickt hat. Aber vielleicht wäre es den Versuch wert. Es könnte uns helfen, besser zu begreifen, wie Österreich so funktioniert.


Tiroler Tageszeitung, 6. 10. 2019


 


 


 

Allerlei Bekannte


Angeblich sind wir in unserer total vernetzten Welt über sechs Ecken mit allen Menschen auf dieser Erde bekannt (früher, vor der Vernetzung, waren es sieben). Bei manchen notorischen Zeitgenossen sind es auch weniger Ecken. So habe ich einen Jugendfreund, der eine zeitlang sein Glück in Abu Dhabi versuchte und dort geschäftlich mit der Familie Bin Laden zu tun hatte, der ja eine große Baufirma gehört. Ebenso wenige Ecken sind es beim Spross der monegassischen Herrscherfamilie Pierre Casiraghi. Bei uns wohnte nämlich um 1960 "das Fräulein Duregger", wie man damals sagte, in Untermiete. Sie war später als Kindermädchen bei der Familie Casiraghi beschäftigt und hat also Pierres Vater, dem bei einem Bootsunfall tödlich verunglückten Andrea, den Popo geputzt und aufgepasst, dass er nicht von der Schaukel fiel. Ich interessiere mich sonst weniger für Fürstenhäuser aller Art, aber beim Namen Casiraghi denke ich immer an das Fräulein Duregger und das elegant oval-länglich geformte Nachttischlämpchen und die nicht weniger fesche Fünfzigerjahr-Tapete in ihrem Zimmer.


So auch jetzt, als ich las, dass der Sohn des Dureggerschen Schützlings nun mit Greta Thunberg auf einer Super-Luxus-Renn-Segeljacht über das weite, wilde Meer nach New York schippert. Ich habe einmal – freilich auf einer viel weniger tollen Jacht – einen nächtlichen Sturm auf dem Meer erlebt. Da kann ich nur hoffen, dass dieses arme, von skrupellosen Erwachsenen für einen abscheulichen Kinderkreuzzug missbrauchte Mädchen wenigstens heil über den Atlantik kommt. Sie bräuchte dringend jemanden wir das Fräulein Duregger.


 Tiroler Tageszeitung, 25. 8. 2019


 


 

 


Was früher besser war


Seit ich wenn schon nicht alt, so doch älter werde, fallen mir manchmal Sachen ein, die früher besser waren. Es sind nicht viele, und die Zahnmedizin gehört sicher nicht dazu. Man muss nicht bis zu Wilhelm Buschs Zahnzieh-Geschichten zurückgehen, auch der eine oder andere Gedanke an die eigene Jugendzeit genügt, um einen mit leisem Gruseln vor der Vergangenheit zu erfüllen.
Und weil die Zahnmedizin heutzutage so gut ist, muss der einschlägige Patient natürlich auch besser werden. Jedesmal, wenn sie meine still und beschaulich vor sich hin bröselnden Zahnhälse betrachtet, schaut mir meine Zahnärztin ganz lieb und eindringlich ins Auge und sagt: "Sie sollten da regelmäßiger mit der Zahnseide dran. Diese Zahnhalskaries, die kriegen wir sonst nie in den Griff." Ich sage daraufhin "Mhm", denn mehr kann man mit dem ganzen Metallgerät im Mund ja schwer sagen, und so habe ich mir wieder einmal eine Packung Zahnseide gekauft.
Damit war ein Anfang gemacht. Um allerdings an die Verpackung dieser Packung zu kommen, musste ich mein Taschenmesser zur Anwendung bringen. Das passiert mir immer öfter. Druckerpatronen, Batterien, Glühbirnen (oder wie das heißt, was man ihrer Stelle heutzutage nimmt), alles und jedes ist in eine Sorte von Massiv-Kunststoff eingehüllt, dass man nur noch mit roher Gewalt und einer Portion Glück an das Produkt selber kommt. Oder bin ich dafür zu blöd, und alle anderen schaffen das spielend? Ich riskiere jedesmal Schnitt- und Stichverletzungen aller Art. Also die Verpackungen waren früher besser. Oft waren sie nicht einmal vorhanden, das war das beste.


Tiroler Tageszeitung, 8. 9. 2019


 

Putzige Tierlein im Wald


Die grüne Weltanschauung, der viele von uns frönen, hat neben anderen Merksätzen diesen: Die Tiere, die draußen in der Natur wohnen und ein Fell und vier Beine haben, sind ganz, ganz lieb. Sollte irgendeines von ihnen einmal nicht lieb sein, so ist selbstverständlich, man möchte sagen naturgemäß, der Mensch dran schuld. Das ist nicht nur bei den Wildtieren so, sondern auch bei den Haus- und Nutztieren – man denke an unsere Almkühe, die immer wieder wegen grober persönlicher Attacken auf Hundebesitzer und andere auffällig werden; neulich hat sich sogar ein Schaf arg danebenbenommen.Zu den besonders lieben zählen Bären aller Art, schon weil wir alle früher einmal einen kleinen solchen aus Stoff im Bett hatten, und dann alle diese Pandas und die niedlichen Eisbären auf ihren Schollen! So ist es geradezu logisch, dass gelegentlich bei uns einwandernde Bären willkommen sein müssen. Wie sie in diesem kleinen, engen, dichtbevölkerten Land Platz haben sollen, ist ein wenig die Frage. Sie sollte uns aber nicht zu sehr schrecken. Vielleicht haben die Pitztaler ein Einsehen und ziehen aus, dann könnten wir rundherum einen Zaun bauen und hätten das tollste Reservat.
Nun macht andererseits so ein Zaun kein schönes Bild. Lassen wir also besser die neuen Bärenbürger an den gastlichen Steilhängen unserer Täler sich ansiedeln. Und sollte doch einmal einer von ihnen einen von uns schnabulieren – dann gehe ich davon aus, dass sich in jener schweren Stunde ein Experte findet, der uns darlegt, dass bei der Geschichte der Mensch eigentlich der Böse und der Bär bloß überfordert war.


Tiroler Tageszeitung, 11. 8. 2019

Ferien auf einem friedlichen Fluss


Heuer haben wir unsere Auslandsferien auf einem Hausboot verbracht. Wir befuhren die Saône, einen geradezu unfassbar ruhigen französischen Fluss mit vielen, vielen Windungen und dazwischen ein paar Schleusen, und obwohl wir uns mitten in Mitteleuropa befanden, hatte man streckenweise das Gefühl, in einem fernen, geradezu exotisch leeren Land zu reisen.
Es lag nicht nur an dem stark verlangsamten Reisetempo – mit so einem Boot schafft man 30 km, höchstens 40 km am Tag, – vor allem lag es an der ungewohnten Optik. Eine Woche lang schaukelten wir ganz leicht und sehr langsam zwischen vielen, vielen Büschen und Bäumen dahin. Von Zeit zu Zeit tauchte dahinter ein Kirchturm auf, und manchmal konnte man anlegen, ins Dorf gehen und einkaufen und einen Kaffee trinken. Manchmal galt es eine Schleuse zu passieren, damit die Mannschaft nicht allzu schläfrig wurde. Wenn man abends am Pier einer kleinen Stadt anlegte, wo es auch noch ein Restaurant gab, war das schon fast außergewöhnlich.
Meistens beschäftigte man sich mit Gebüsch, dazu Seerosen, Schwäne, Reiher, Raubvögel, Fische, eine Ringelnatter, ein Kormoran; dann und wann kam ein anderes Boot entgegen, saß am Ufer ein Angler, oder ein paar Radfahrer huschten vorbei. Ganz nebenbei bekam man eine Lektion über die Flussschifffahrt und die ausgefuchste technische Einrichtung, die alle diese Wasserstraßen zwischen Frankreich und Polen seit dem 19. Jahrhundert befahrbar macht.
Das Wort "Entschleunigung" wird heutzutage oft und gern verwendet. So entschleunigt wie nach dieser Sommerfrischwoche am Fluss waren wir uns überhaupt noch nie vorgekommen.


Tiroler Tageszeitung, 28. 7. 2019

Über den Verfall der Mundart


Es war einer der lauen Abende der letzten Zeit, und ich wartete an einer Straße in der Innenstadt, um ein Auto vorbeizulassen. Dessen Fenster standen offen, man konnte die vier jungen Männer, die darin saßen, nicht nur sehen, sondern auch hören. Sie hatten es sehr lustig. Gerade als sie mich passierten, schrie einer heraus: "Oachkatzlschwoaf!!" Statt mich zu erschrecken, was sie wohl vorgehabt hatten, erfreuten sie mich. Jemand kannte also dieses Tiroler Kunstwort noch, das früher Auswärtigen zum Nachsprechen geboten wurde, weil man innertirolisch der Meinung war, es sei so unverständlich und unaussprechlich wie nur je ein Zungenbrecher.


Mittlerweile, jedenfalls unter den städtischen Jugendlichen, hört sich die traditionelle Mundart so ziemlich auf und macht einem niedlichen Kauderwelsch Platz, das ungefähr dem Bundesdeutsch nachgebildet ist, das die Bundesdeutschen selber für Hochdeutsch halten. Am auffälligsten dabei ist der Ersatz von auffi, eini, außi, abi usw. durch rauf, rein, raus und runter. Nachdem alle österreichischen Journalisten das in ihrem Schreiben und Sprechen auch so halten, wird es sich wohl durchsetzen. In meinen Ohren scheppert es immer noch, aber so geht es, wenn man nach und nach zum alten Eisen zählt.


Kürzlich durfte ich allerdings lesen, dass in der wiener Jugendsprache einige Dialektörter wie "zach" in Mode gekommen sind. Und schließlich haben drei meiner vier Großeltern auch nicht Tirolerisch, sondern Österreichisch gesprochen. Das ist das – um es ausländisch zu sagen – Coole an den Zeitläuften: man weiß doch nie, wie es kommt.


Tiroler Tageszeitung, 14. 7. 2019


 

 Die Poesie der T-Shirt-Texte


Wir beschäftigen uns in dieser Glosse immer mit den schwierigen Fragen unserer Zeit. Heute geht es um eine unbeantwortbare. Der westliche Mann wurde bisher darauf getrimmt, die Frauen in Augenschein zu nehmen, zum Zwecke der Partnerwahl und auch im allgemeinen, weil die Frau als etwas Schönes galt und Schönheit als bewundernswürdig. Nun hat man in der bildenden Kunst die Schönheit abgeschafft, und Frauen anzuschauen gilt mittlerweile schon beinah als strafwürdiges Verhalten, sozusagen als Vorstufe zur Vergewaltigung. In Berlin hat man das Gedicht eines frauenbewundernden Mannes, das als Kunst im öffentlichen Raum eine Hauswand zierte, deswegen schon entfernen lassen.


Die Frauen machen aber in der Mehrzahl keine Anstalten, sich dementsprechend unauffällig herzurichten, um nicht dauernd als potentielle Sexualobjekte durch die Gegend zu laufen. Eher scheint mir das Gegenteil der Fall. Jetzt, in der warmen Jahreszeit, wird man praktisch flächendeckend von weiblichen Oberkörpern in T-Shirts umschwirrt, auf denen zu allem Überfluss auch noch etwas Effekthascherisches geschrieben steht. Da kann ein passionierter Leser wie ich nicht wegschauen. Ich lese Sachen wie "Sweet little nothing"; neulich las ich "happy" und "sharia" und dachte noch gar nichts, sondern schaute noch einmal hin, da stand dann gottseidank, gar nicht schräg, sondern mehr lieb: "sharing".


Die nächsten, geläuterten Generationen, die der LGBT-Religion anhängen, werden das Problem nicht mehr kennen. Für mich bleibt die Frage: wohin soll ich noch schauen, wenn ich den neuen strengen Moralvorstellungen genügen will?


Tiroler Tageszeitung, 30. 6. 2019


 


 


 


 

Wenn Maschinen denken


Das Denken überlasst den Pferden, die haben die größeren Köpfe, hat unser Geografielehrer immer gesagt. Jetzt überlassen wir das Denken den Maschinen. Das ist oft eine sehr gute Sache, man muss tatsächlich nicht alles selber machen. Nur manchmal hakt es ein bisschen. Da hat mein E-Mail-Postfach beschlossen, Zuschriften, die ich ihm schon als "keine Werbung" angezeigt hatte, doch als Werbung zu klassifizieren. Irgendwann merkt man das, findet im Unerwünschte-Werbung-Ordner Reste, und unter dem Motto "Alles muss man dir zweimal sagen" sagt man es ihm eben noch einmal. Vorderhand ist er brav, aber man weiß natürlich nicht, was ihm als nächstes einfällt.


Dann hat meine praktische Internet-Bankverbindung befunden, sie könne sich nur immer entweder um mein Konto kümmern oder um das meiner Frau, das ich auch betreue. Beide zugleich gehen nicht. Der zuständige Support rät mir, eben zwei verschiedene Server zu verwenden. Ist nicht gerade elegant, KI-mäßig, aber bitte.


Meine neueste Begegnung mit den modernen Zeiten geschah, als ich jüngst das Fenster öffnete, es war der erste richtig warme Tag, ich wollte etwas von der Frühlingspracht zu mir hereinlassen und schaute also auch hinaus. Doch da – was war das? Etwas hing vor mir in der Luft. Es war eine Drohne. Filmte sie mich? Belastendes Material? WK beim Nichtstun und aus dem Fenster Schauen? Zum ersten und bisher einzigen Mal in meinem Leben hatte ich Sehnsucht nach einer Handfeuerwaffe. Das Ding mit einem gezielten Schuss herunterholen! Aber wenn ich es verfehlte und mein Treiben dann auch noch mit auf dem Film wäre?


Tiroler Tageszeitung, 9. 6. 2019


 


 

Die bunte Bank


Auf dem Platz vor unserem Haus steht, neben mehreren holzfarbenen Bänken, seit ungefähr einem Jahr auch eine bunte Bank. Ich bin schon ungefähr achthundertmal an ihr vorbeigegangen und habe es eigentlich nett gefunden, dass da so etwas Buntes steht – wiewohl unsere Stadt längst nicht mehr so grau ist, wie sie früher war, im Gegenteil vor Buntheit geradezu strotzt.


Kürzlich erst fiel mir auf, dass an der Lehne ein Schildchen angebracht ist, und weil ich immer alles lese, was mir vor die Augen kommt, las ich auch dieses. Da steht geschrieben: "Diese Bank setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Akzeptanz und Gleichberechtigung der LGBTIQ Community." Ich bin natürlich wie jeder Mensch für Akzeptanz und Gleichberechtigung, wie soll ich nicht dafür sein? Und dass ich da vergattert werden soll, mich an dem modischen Gender-und-es-gibt-jetzt-52-verschiedene-Geschlechter-Zirkus zu beteiligen, weiß ich trotz meines fortgeschrittenen Alters auch gerade noch. Aber da müsste ehrlicherweise diese Bank einen Beipackzettel bekommen, der die Abkürzung LGBTIQ im einzelnen erklärt, und das zumindest in den häufigeren der vielen Sprachen, die man in unserer Weltstadt heutzutage auf der Straße hört. Denn gerade unseren frisch Eingewanderten dürfte das Konzept aus ihrer Heimat noch noch nicht so geläufig sein und müsste ihnen im Zug einer gelingenden Integration näher gebracht werden. Und dann fällt mir der renommierte Gynäkologe DDr. Johannes Huber dazu ein, der irgendwo anmerkt, dass er in seiner langen Karriere eigentlich nur zwei verschiedenen Geschlechtern begegnet sei.


Tiroler Tageszeitung, 19. 5. 2019


 

Über Wortklauberei


Den Ton angeben, das ist wichtig, denn die Oberhoheit über die Wörter bedeutet eine politische Dominanz. Daher auch die bereitwillige Erregung, wenn das rechte Lager mit einem neuen Wort daherkommt, um seine Ansichten und Ziele darzustellen. Diesmal lautet der Begriff "Bevölkerungsaustausch". Er stammt anscheinend von dem französischen Schriftsteller Renaud Camus, der ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, dass durch vermehrte Einwanderung aus anderen Kulturen die eigene einen "Identitäts- und Kulturverlust" erleide. Bei Mölzer & Haider hieß das einst "Umvolkung". Die Linke, die die Masseneinwanderung tendenziell für eine gute Sache hält, nennt deren Ergebnis hingegen optmistisch "multikulturelle Gesellschaft".
Bei den Vereinten Nationen, wo man sich auch mit solchen Sachen beschäftigt, wurde das selbe als "replacement immigration" bezeichnet. Dort findet man die Angabe, dass, bei der bekanntlich schwächelnden Fortpflanzungsfreude der industrialisierten Länder, zum Beispiel Deutschland eine halbe Million Einwanderer im Jahr bräuchte, um die Zahl an Erwerbstätigen gleich zu halten. Ohne Zweifel dürfte sich mit einer entsprechenden Änderung der ethnischen Zugehörigkeitsverhältnisse einiges im Land ändern, zumal in der europäischen Realität die Einwanderer im wesentlichen aus muslimischen Ländern kommen.
Das könnte auf die Dauer tatsächlich kulturelle und rechtliche Änderungen bewirken, und man kann geteilter Meinung sein, ob man das möchte. Durch aggressive Wortklauberei, wie sie bislang zu beobachten ist, wird man dem Kern der Debatte wohl nicht näher kommen.


Tiroler Tageszeitung, 5. 5. 2019

Schwache Kenntnis, starke Meinung


In letzter Zeit hat fast alles, was es gibt, mit dem Klimawandel zu tun. Sollten wir, was Gott verhüten möge, wieder einmal einen original Tiroler Sommer bekommen, mit Regen von Anfang Juni bis Anfang September und dreimal Schnee bis zum Mittelgebirge, wird das selbstredend auch an der Erderwärmung liegen unter dem beliebten neueren Naturgesetz: "Es wird kälter, weil es wärmer wird."
Naturgemäß widmen sich die neuen Naturfilme auch besagtem Thema, was schon deshalb etwas keck ist, weil große Teile des Globus erst seit kurzem erforscht werden und man kaum weiß, wie es zuvor dort war. Dass da der eine oder andere, vom Zeitgeist getrieben, über die Stränge schlägt, kann nicht verwundern. Seit vor 40 Jahren das Waldsterben ausgerufen wurde und wir alle daraufhin dürre Bäume im Wald entdeckten, ist jeder empfänglich für solche Sachen geworden.
Den Vogel, oder besser gesagt das Walross abgeschossen hat neulich der beliebte Naturfilmer David Attenborough ("Our Planet", auf Netflix, die Szene finden Sie auch auf YouTube). Da drängen vor laufender Kamera Walrösser auf einer hohen Klippe nahe am Meer über felsig-abschüssiges Gelände, und eines stürzt dabei zu Tode – Ursache siehe oben. Eine Forscherin meinte, die wahrscheinlichere Ursache sei ein Angriff durch Eisbären. Unter dem Motto "Nichts Genaues weiß man nicht" macht man auf jeden Fall schwache Kenntnis durch starke Meinung wett. Darauf sprechen begeisterungsfähige Kinder und Jugendliche besonders gut an, ein Schauspiel, das zurzeit viel Zustimmung erhält, mir aber eher peinlich bis makaber erscheint.


Tiroler Tageszeitung, 14. 4. 2019

Wundersames geschieht in der Welt


Wir leben hier ja gottseidank mitten im Wald, "fern von Europa", wie einmal ein halblustiges Buch über uns hieß, noch ganz gemütlich. Mit den vielen, die von weiter draußen, aus den dicht bevölkerten Tiefebenen zu uns zum Schifahren kommen, sprechen wir meistens über selbiges und selten über den Wahnsinn, der dorten in den großen Städten von Leuten zusammengekocht wird, die offenbar gar nichts zu tun (so in der Art von Arbeit) haben und stattdessen, erleichtert durch das Internet, mit Gleichgesinnten ständig daran sind, die Welt zu retten, und das auf jedem denkbaren Gebiet.
So hören wir aus Deutschland dieser Tage, dass in den Kindertagesstätten die Regeln für die frühkindliche Faschingsverkleidung endlich auf die Höhe der politischen Korrektheit gebracht wurde. So ist es nicht mehr angängig, sich als Cowboy (bewaffnete Gewalttäter!) oder Scheich (Islamophobie und so) zu verkleiden. Gut hat mir auch gefallen, dass "Indianer" als Kostümwahl ebenfalls nicht mehr geht. Dies sei eine Diskriminierung der amerikanischen Ureinwohner. Der Begriff stehe im Zusammenhang mit der seinerzeitigen teilweisen Vernichtung dieser Bevölkerungsgruppe, die es aber überdies als solche gar nie gegeben habe. Sie müssen hier nicht versuchen, das auch noch zu verstehen. Verstehen soll der Mensch bloß, dass es hier ein paar neue Regeln gibt, denen gefälligst zu folgen ist, nach dem altbewährten Schema "Maul halten und kuschen". Das hat man bei uns von früher her politisch eher rechts verortet, nun kommt es zur Abwechslung von links. Das macht es moralisch natürlich viel höherstehend.


Tiroler Tageszeitung, 24. 3. 2019

Bevölkerungsexplosion abgesagt


Selten hat man den Eindruck, den historischen Moment genau sehen zu können, an dem sich etwas unwiderruflich verändert. Manchmal sind es große Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer, manchmal kleine oder vielmehr keine. Da ist bloß ein Zeitungsartikel über ein vor kurzem erschienenes Buch, und mit einem Mal schaut die Welt ganz anders aus als noch gerade eben: Mit Anfang dieses Jahres wurde nämlich die Bevölkerungsexplosion abgesagt, die Leute meines Alters ihr Leben lang als Horrorvision begleitet hat. Zwar hält die UNO vorderhand daran fest (aus welchen Gründen immer), doch eine wachsende Zahl an Bevölkerungsforschern kommt zum gegenteiligen Ergebnis: die Weltbevölkerung wird in etwa 20 Jahren irgendwo zwischen acht und neun Milliarden Menschen stagnieren und dann zu sinken anfangen. Die treibende Kraft ist die Verstädterung. Binnen kurzem werden zwei Drittel aller Menschen in Städten wohnen, und Städter, das wissen wir von uns selber, bekommen nur sehr wenige Kinder. China, das im letzten Jahr bereits 1,27 Millionen Einwohner verloren hat, musste 2016 feststellen, dass die Aufhebung der Ein-Kind-Politik nicht zu einer Erhöhung der Geburtenrate führte, im Gegenteil sackte diese weiter ab und wird das auch weiterhin tun. Was die Industriestaaten vormachen, macht der Rest der Welt dann nach, mit etwas Zeitverzögerung, über deren Ausmaß die Experten streiten. Jedenfalls finde ich die Nachricht bemerkenswert und wollte sie Ihnen deshalb nicht vorenthalten. Ob das nun eine gute Nachricht oder eher doch eine schlechte ist, lässt sich seriöserweise noch nicht abschätzen.


Tiroler Tageszeitung, 10. 3. 2019

Kein Strom, kein Suppenfleisch


Der Metzger meines Vertrauens – an diesem Tag war es die Metzgerin, die Dienst hatte – schaute weniger freundlich drein als üblich, genaugenommen schaute sie richtig griesgrämig drein. Sie könne mir das Suppenfleisch und die zwei Knochen, die ich brauchte, nicht verkaufen, der Computer ginge nicht, in den anderen Filialen auch nicht, in einer halben Stunde ginge er wieder, hätten sie gesagt. Ich machte meine Runde fertig, da war die halbe Stunde um, der Computer ging aber immer noch nicht. Mußten wir für Mittag umdisponieren, das ist schließlich "kein Drama", wie unsere Kinder sagen, wenn sie eine nicht so gute Note geschrieben haben.
Aßen wir halt was anderes, und im übrigen war es nicht das Stromnetz, sondern bloß ein kleines Computer-Netzwerk. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich komisch, aber ich muss in solchen Momenten trotzdem an die berühmte "Energiewende" denken. Wir stellen alles Denkbare und auch das Undenkbare auf Strom um, sodass ohne Strom definitiv überhaupt nichts mehr geht, und zugleich schalten wir die Kraftwerke, die verlässlich Strom liefern, ab und wollen uns in Zukunft auf Sonne und Wind als Lieferanten verlassen, die scheinen und wehen, wann sie wollen. Und dann bauen wir die Speichertechnologie aus, in Zukunft, irgendwann, irgendwie. Selbst wenn wir annehmen, dass die Experten in Sachen Klima als erste und einzige die Zukunft kennen: Würden Sie für den Fall einer solchen in Ausmaß und Auswirkungen ungewissen Bedrohung als erstes das Energie-Grundversorgungssystem potentiell lahmlegen, mit der Zusicherung, das würde dann schon irgendwie gehen?


Tiroler Tageszeitung, 3. 2. 2019