Kolumnen
Literaturkritik
Prosa
Malerei
Er war beim Publikum beliebt, bei den Leuten „vom Fach“, also denen von der Germanistik nicht. Warum denn bloß? Ich denke, es war einfach der Titel seiner ersten zwei erfolgreichen Romane, „Tadellöser & Wolff“ und „Uns geht’s ja noch gold“. Die klangen irgendwie zu lustig, um als ernsthafte Literatur durchgehen zu können. Und natürlich hatte sich in den tonangebenden Kreisen durchgesprochen, dass es sich bei ihm ohne Zweifel um einen bürgerlichen Menschen handelte. Wie das meiste ist auch dies schon länger Geschichte, und 15 Jahre nach seinem Tod erscheint nun eine Biografie, die den entsprechenden Titel trägt (Dirk Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. Pantheon Verlag, München 2022, 320 S.). Dass über ihn zu Lebzeiten insgesamt drei Dissertationen entstanden, während solche Elaborate buchstäblich zu Hunderten zum Beispiel über Christa Wolf oder Heiner Müller verfasst wurden, sollte nicht zur Misanthropie, zum Kulturpessimismus verleiten, freuen wir uns, dass es jetzt dieses Werklein gibt, in dem man nicht zuletzt, bevor der Anmerkungsteil losgeht, lesen kann, was er zu dem Ende zu sagen hatte, das jedem bevorsteht. „Mit dem Ende als solchem habe ich kein Problem. Gut, mich interessiert schon, was passiert, wenn die Klappe eines Tages fällt.“ Bis zur letzten Sekunde neugierig bleiben, das wäre doch ein Ideal, dem zu folgen sich lohnte.
Seit Gerhard Polts unsterblichem Sager „Englisch ist ja heutzutag keine Fremdsprach mehr – ich sprechs ja nicht …“ ist ein Menge Wasser alle denkbaren Flüsse hinabgeronnen, und immer noch fehlt selbige Fähigkeit einer bedauerlich großen Zahl der Mit- und Weltbürger, womöglich auch den /Innen. Ganz ausnahmsweise sei auf zwei in jener exotischen Zunge abgefasste Bücher verwiesen, weil sie einfach zu gut sind. Das erste wird wohl bald übersetzt werden (Anne Glenconner, Lady in Waiting, Hodder&Stoughton, London 2019, 326 S.), denn was die Autorin hier ausbreitet, ist einer großen Zahl von Fans aus der Serie „The Crown“ aus einem anderen Blickwinkel vertraut. Die ehemalige Hofdame aus dem Umkreis der Prinzessin Margret hatte im recht hohen Alter zu schreiben begonnen, als ihr verrückter Gatte starb und sich herausstellte, dass er den gesamten Besitz seinem bevorzugten Angestellten auf dem Gut in Westindien vermacht hatte. Nach der Autobiografie schrieb sie mit Tempo und sehr erfolgreich etliche Krimis (deutsche Ausgaben bei Rowohlt), wie es ausschaut, alles in dem gutgelaunten Ton, den sie sich als geeignete Überlebensmethode in den gehobenen Kreisen angewöhnt hatte, in denen sie ihr Leben verbrachte.
Auch unser dritter ist ein unerwarteter Kandidat für das Prädikat „Lesevergnügen“. Es handelt sich um Ivar Giaever (sprich „Jever“), einen der drei Physik-Nobelpreisträger von 1973. Was macht das Leben eines Physik-Nobelpreisträgers lesenswert? Ganz einfach der Umstand, dass die Lektüre Vergnügen macht, was mit dem Titel anfängt (Ivar Giaever, I am the Smartest Man I Know. World Scientific Publishing 2016, 272 S.). Der Titel ist selber schon ein Witz. An dem Tag, als ihm der schwedische König die Urkunde überreicht, kommt er zu dem Schluss, dass er nun tatsächlich jener unter allen seinen Bekannten ist, der, amtlich bestätigt, der schlaueste ist. Dass der Weltruhm der Physiknobelpreisträger recht schnell an gewisse natürliche Grenzen stößt, erlebt er in seiner norwegischen Heimat, als er mit seinem Schwager in Oslo zu einem Fußballmatch fährt. Roald hatte 25 Jahre früher olympisches Gold im Eisschnelllauf gewonnen, der Nobelpreis war „erst“ zehn Jahre her. Sie waren etwas spät dran und fanden keinen Platz, um das Auto abzustellen. Und wen von den beiden erkannte der Polizist auf der Stelle, der am Stadion den Verkehr regelte und den sie um Rat fragten?
Extra der Wiener Zeitung, vorletzte Lieferung, Frühjahr 2023
Ja, ja, der Herbst. Gern wird er mit den allmählich absteigenden Lebensjahren assoziiert, und das dazugehörige Vegetationsgeschehen legt die Parallele nahe. Da gibt es ja auch schöne, gerade noch warme Abende voller Licht (wenn es auch schwindet) und einer Orgie an Farben; das sollte doch über die Melancholie des ganzen Unternehmens hinweghelfen. Barbara Pyms dritter bei DuMont jetzt wieder aufgelegter Roman handelt von vier Leuten, alle um die 60, die nichts gemeinsam haben, als dass sie im selben Büro sitzen, fünf Tage in der Woche, das ganze Jahr über. Sonst verbindet sie nichts, es wäre sehr übertrieben zu sagen, sie seien befreundet. Was sie in diesem Büro tun, erfährt der Leser nicht, nur, dass bei der kleinen Feier, die ihre Firma zum Anlass des Pensionsantritts für die zwei Damen unter den vieren ausrichtet klar wird, dass auch sonst in der Firma niemand wirklich weiß, was diese kleine Abteilung tut. Sie soll in ein paar Jahren, wenn die die zwei Herren auch pensioniert sind, ohnehin geschlossen werden. Aus diesem, vorsichtig ausgedrückt, wenig versprechenden Stoff hat Pym eine ziemlich dunkel getönte Komödie gestrickt, die sich vorderhand durch zwei Dinge auszeichnet: es geschieht darin eigentlich nichts, nämlich gar nichts, und die beim Lesen sich vorderhand einstellende Stimmung ist ein leises, aber deutliches Grauen vor solch einem Leben. Wie sie dann ganz am Ende eine Kurve kriegt, die tatsächlich im Positive, geradezu Erfreulichen landet, und wie man aus der Beschreibung von fast nichts humoristische Funken schlägt, das grenzt nicht an ein Wunder, das ist eines.
Barbara Pym, Quartett im Herbst, Roman. Übers. von Susanne Roth, DuMont Buchverlag 2021, 349 S.
Walter Klier
Extra der Wiener Zeitung 2021
Die Hennen wuseln noch am Eingang zur Voliere herum, manche rennen wieder heraus, andere hinein, als sie mich kommen sehen, in der Annahme, daß ich etwas zum Fressen mitbringe. Ich habe nichts mit, aber jedenfalls sind sie nun alle drinnen und ich kann zusperren. Die meisten gehen durchs Türl in den Stall, ein paar bleiben heraußen in der Voliere und verbringen die Nacht auf der hier angebrachten Stange. Im Sommer sind alle heraußen, bis auf allfällige Bruthennen mit oder ohne Brut, die, um letztere zu schützen, gesondert untergebracht werden.
Heute ist einer der Abende, an denen man wieder einmal sicher zu sein glaubt, daß nun der Winter endgültig vor der Tür steht. Es hat schon am Nachmittag geregnet und dürfte ein Stück weiter oben am Berg bereits schneien. Vielleicht schneit es in der Nacht bis zu uns herunter, und wenn es dann aufreißt, gibt es einen dieser klar-hellen, weiß-blauen, bitterkalten Morgen, wo es einen schon beim Hinausschauen aus dem Fenster abbibbert. (Ein Wort mit zwei Doppel-b, eigentlich toll, daß es so etwas gibt! Ich habe es in meinem bisherigen Leben noch nie geschrieben, nur gesagt, jetzt, wo es schwarz auf weiß dasteht, finde ich es absolut apart.)
Bis zu uns auf 914 m über dem Meer (bei Triest) heruntergeschneit hat es schon Ende September, genau gesagt am 25. September, als meine Ausstellung in der Altstadtgalerie Hall eröffnet wurde, ohne Vernissage wegen der bekannten Umstände, es kamen also im Lauf des Tages, den ich in der Galerie verbrachte, insgesamt ungefähr 5 oder 7 Leute vorbei, am Ende war ich doch in ziemlich miserabler Stimmung und mein ganzes Leben erschien mir mehr oder weniger vertan und sinnlos. Wie es einem halt manchmal so geht. Mein Galerist, Hannes Niederlechner, der netteste Galerist, den man sich überhaupt vorstellen kann, führte mich noch ein Stück in Richtung trautes Heim, und auch da war es kurz nach sechs zappenduster, und gleich nebenan, an den Südhängen des Thaurer Zunterkopfs, schimmerte es schon weiß herunter. Aber trotz alledem und nicht zuletzt dank Hannes' nie versiegender Zuversicht und seinem allumfassenden Engagement wurde es insgesamt eine tolle Ausstellung, wie jeder, der dort war, bestätigt hat.
Jedenfalls ist es jetzt, um noch nicht einmal fünf Uhr, ebenfalls wieder zappenduster, und höchste Zeit, daß die Viecher in den Stall kommen, damit sie nicht der Fuchs auf seinem Abendspaziergang erwischt. Dieser Abendspaziergang führt ihn nämlich regelmäßig bei uns vorbei, da schaut er nach, ob wir nicht vielleicht doch die Stalltür offengelassen haben, oder eine Henne übersehen, die sich dann im Dunkeln aus einem Strauch herausklauben läßt.
Abgesehen von den diversen Sorten Geier, die mit vergleichbaren Absichten bei Tageslicht ihre Aufwartung machen, bedroht die Hennen eigentlich nur der Tod von unserer Hand, die wir sonst weiß Gott was aufführen, um sie zu schützen, zu nähren und sonstwie zu umhegen. Und zwar dann, wenn sie allzu alt geworden sind, also seit Jahren nichts mehr legen oder so gut wie nichts, bereits Fuß-, Bein- und sonstige Beschwerden aller Art haben, also auch der wohlverdiente Lebensabend im Grunde hinter ihnen liegt. Irgendwann erreichen wir nämlich den Punkt, an dem die Überaltung die Veranstaltung "Hennenstall" so ziemlich ins Absurde kippen läßt, wenn nämlich kein Schwein mehr etwas legt, bei andererseits unvermindertem Appetit, also ungefähr der Grad an Überalterung, den das gute alte Europa auch bald erreichen wird.
Irgendwann, nach Monaten und Jahren des Zauderns, wird dann eines Abends beschlossen, daß eine oder zwei unserer Ältesten dran glauben müssen und ins letzte Stadium des artgerechten Lebens, das der Suppenhenne, wechseln dürfen. Dabei gibt es unter Umständen Überraschungen wie das auf obigem Foto sichtbare Geschwür, oder was es denn sein mag, das beim Ausnehmen ans Licht gekommen ist und uns dazu bewog, die prospektive Suppenhenne zu gegart zum Katzen- und Hühnerfutter umzuwidmen. Die Hennen selber sind nämlich recht unsentimental, was den Verzehr ihrer Artgenossen anlangt.
Alpenfeuilleton, 27.11.2020
Vor dem Winter 2
Bei allem, was man tut oder nicht tut oder anders als sonst tut, sagt man jetzt "coronabedingt". Obwohl alle, die ein bißchen etwas hermachen wollen, nicht "Corona", sondern "Covid-19" sagen (die Krankheit heißt Covid-19, Corona ist ja bloß die Familie oder Ordnung oder was immer, der das Virus angehört, du Dödel!), sagen dann, wenn sie etwas tun etc., "coronabedingt" und nicht "covid-19-bedingt". Und dabei sind es weder das Viruschen noch das Grippchen, die das Tun bedingen, sondern die Große Angst.
Wegen der Großen Angst also sind wir Mitte März verfrüht in unser Haus im Wald gezogen, und aus dem selben Grund sind wir nun auch hier geblieben. Normalerweise (oder "normal", wie der Tiroler sagt) wohnen wir hier von Ostern bis Allerheiligen, und das war mehr oder weniger schon immer so, seit ich selber ein Kind war. So lang wie im heurigen Jahr bin ich noch nie, und ist auch sonst niemand aus der Familie je hier gewesen. Da die Kinder während all der Zeit nicht oft in der Schule waren, hält sich auch das Auf- und Abgefahre in Grenzen, und bis vor ein paar Tagen kamen wir in den Genuß eines tirolischen Bilderbuchherbstes. Ein alter Freund der Familie, der in Wien lebt und dort alle Jahre wieder unter dem Herbst- und anschließenden Winterhochnebel leidet, machte sich unter einem Vorwand los. Für einen Nachmittag stattete er uns in unserer Waldeinöde einen Besuch ab. Tags darauf schlug das Wetter um, und er kam in den Genuß von etwas ganz Seltenem: dichtem Hochnebel über Innsbruck. Er kämpfte sich am Nordkettenhang bergan, und immerhin gelang es ihm, etwa in Höhe der Höttinger Alm ins Reich der Sonne durchzustoßen. Für solches ist der Stephansdom dann doch zu niedrig.
Jedenfalls wird es hier im Wald jetzt richtig still. Wo es sonst auf dem Weg unterhalb unserer Wiese immer betriebsam zugeht, sieht man stundenlang – niemanden. Die Kinder haben ziemlich viel Unterricht, wenigstens das scheint besser zu funktionieren als im Frühjahr. Vom Briefträger abgesehen, der zwischen 9 und 10 am Vormittag aufkreuzt, treffen wir tatsächlich tagelang keinen Menschen. Bloß gestern kam überraschend Besuch. Es war gegen 6, also stockfinster. Ich saß beim Schreiben im oberen Stock, da ertönte die Klingel an der Haustür. Sie erklingt zu jeder Jahreszeit äußerst selten, denn meistens hört und sieht man allfällige Eindringlinge schon vorher und zeigt sich. Ich eilte hinunter (wer mag das sein?), und in der Finsternis sah ich zuerst ein ziemlich großes Lieferauto und dann erst einen ziemlich kleinen Mann, der unmittelbar vor mir stand und mir ein sehr kleines Paket in die Hand drückte. Ich versuchte die Adresse zu entziffern, er sagte bloß: "GLS." Dann sah ich erst, daß das große Lieferauto vom Schotterplatz, auf dem die Autos normalerweise stehenbleiben und umdrehen, weiter auf den Rasen direkt am Haus vorgedrungen war. Auf dem Auto stand in großen Lettern, was er gerade gesagt hatte, und darunter kleiner ein Name, den ich am ehesten für rumänisch halten würde.
Ich sagte, "Da bist du ein Stück zu weit gefahren, besser hättest du dort oben umgedreht."
Er sagte nocheinmal "GLS", dann stieg er ein.
Der Rasen liegt um einen halben Meter tiefer als der Schotterplatz, deshalb gibt es dazwischen ein sanftes Gefälle bzw. eine sanfte Steigung, die er nun mit seinem großen Auto in Angriff nehmen würde. Er wendete auf dem Rasen, dann blieb er in der kleinen Steigung hängen. Ich fuchtelte vor dem Seitenfenster herum und rief, "Hast du schlechte Reifen? Du mußt noch ein bißchen zurückfahren ins Ebene, dann geht es vielleicht." Dann ging ich ins Haus, um meine Frau zu holen, die oben an ihrem Schreibtisch gerade telefonierte, damit sie mir vielleicht mit dem Anschieben helfen würde. Währenddessen hörte ich das schwere Motorengeheul-und-Räderdurchdrehgeräusch, das darauf schließen ließ, daß "GLS" jetzt das kleine Rasenstück mit seinen schlechten Reifen durchpflügte. Bis wir allerdings drei Minuten später unten vorm Haus im Finstern standen, hörten und sahen wir ihn nur noch unterhalb der Wiese durch den Wald davondüsen.
Man ist mit diesen Fahrern immer per du, was am Land ja unter allen Leuten üblich ist, aber es liegt auch daran, daß man nicht weiß, ob sie einen denn verstehen oder nicht, und kaum hat man es gesagt, kommt man sich wieder irgendwie rassistisch vor. Keine Ahnung, wie man sich in dieser Lage politisch korrekt verhält.
Alpenfeuilleton, www.afeu.at, 4.12.2020
Offenbar soll jetzt schon wieder (wie in diesem Frühjahr) der Mensch daran gehindert werden, an die frische Luft zu gehen und dort womöglich in Gruppen herumzusitzen. Unsere so fürsorgliche Stadtregierung hat sich anfang der Woche schon aufgepudelt über Menschenmassen auf den Almen und daß das jetzt nicht so weitergeht, sonst! Und auch auf der Inn-Ufer-Mauer sollen diese Studenten gefälligst nicht so in Rudeln herumsitzen und durch dieses ihr Sitzen öffentliches Ärgernis erregen.
Nun gut, es sollen ja alle nach Kräften mithelfen, daß unser totaler Krieg gegen das Virus in einem ganz hervorragenden Sieg, ja was denn, endet eben. Da bin ich voll dafür, um nicht zu sagen volle. Nur würde ich, da Anhänger evidenzbasierter Wissenschaft, gerne in Erfahrung bringen, wo sich denn die mörderischen Alm-Cluster und Ufermauern-Hotspots aufhalten, mir ist nämlich noch keiner über den Weg gelaufen. Kann mir da jemand Hinweise geben, wie man sich die heimtückische Ansteckung an einem Tisch im Freien auf einer Alm vorstellen soll? Ich war am Sonntag selber auf einer solchen, und außer mir waren sicher 20 oder 30 andere Leute dort. Ich habe sie mir alle sehr genau angeschaut, was sie tun und lassen, dort oben auf der Alm. Ich frage mich immer noch, worin hier allfällig ansteckendes Verhalten bestanden haben könnte. Vielleicht hilft mir jemand aus der verehrten Leserschaft weiter.
Im Grunde erscheint es mir auch herunten in der Stadt, selbst auf einer belebten Straße der Innenstadt, außerordentlich unwahrscheinlich, daß sich dortselbst Leute anstecken, die einfach nur in einer gewissen Entfernung aneinander vorbeigehen. Heute vormittag sah ich zwei Polizisten, die vermutlich Dienstanweisung haben, so – gewissermaßen doppelt kostümiert – die Straße entlangzumarschieren. Mir taten sie leid, und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie mit dem Fetzen vorm Gesicht irgendwelche schwierigeren Amtshandlungen unternehmen müssen. Oder gar einem Dieb oder sonstwie gesuchten Übeltäter nachlaufen! Da wenigstens, so hoffe ich, dürfen sie das Ding dann ablegen, damit sie noch Luft kriegen. Oder würde selbst in einem solchen Fall der Kampfauftrag gegen das Virus vorrangig zu behandeln sein?
Alpenfeuilleton, 13.11.2020, https://www.afeu.at/meinung/2020/11/18815/atmen-im-freien/
Lange Zeit wunderte ich mich jedesmal beim herbstlichen Holzschneiden, daß die alte Kreissäge immer noch funktionierte. Sie ist fast so alt wie ich. Als meine Eltern das Haus im Wald kauften, 1956, war sie noch nicht da gewesen, und drei Jahre später, als der Papa einen Literaturpreis bekam und – hört, hört! – der Orf Tirol zu uns herauf anrückte und ein paar Meter Film über das Leben der Innergebirgs-Heimatdichter tief im Wald und fern der Zivilisation drehte, war auf diesem Schnipsel Film eben neben dem Herrn Papa auch die Kreissäge zu sehen, mit der er, für einen Literaturbeitrag dramaturgisch gewagt, ein Brett abschnitt.
Ich finde, daß das für ein Elektrogerät doch ein respektables Alter ist. Schon die ganzen letzten Jahre, ein oder zweimal im Jahr, wenn Brennholz geschnitten werden mußte, hielt ich den Atem an, bis sie jedesmal brav und unverdrossen wieder in Schwung kam, kaum hatte man den Einschalthebel umgelegt. Allerdings hatte es, genaugenommen seit etwa vier Jahren, ein leicht röhrendes, leicht scheppriges oder auch schabendes Geräusch aus dem Bereich der Welle gegeben, oder wie man den Teil nennt, der Treibriemen und Sägeblatt verbindet, nicht laut, im Gegenteil so leise, daß man es, wenn man mit ihr nicht vertraut war, wahrscheinlich gar nicht bemerkte, aber eben doch ein bißchen beunruhigend.
Diesmal nun, wie üblich spät im Jahr an einem tiroler Herbsttag, so überirdisch strahlend klar, wie es sich gehört, steigerte sich wenige Minuten nach dem Start dieses Geräusch zu etwas sehr Lautem und sehr Unangenehmem. Es war genau so, wie Maschinen tönen, wenn sie nicht mehr wollen oder nur noch das eine, daß man sie nämlich umgehend abschaltet, andernfalls etwas Unangenehmes passiert oder sie ihren Betrieb ganz einfach einstellen. Das wollte ich nicht so genau herausfinden und schaltete sie gleich ab, und weil es, so weit ich die Welt kenne, ziemlich aussichtslos ist, ein solches Gerät noch einmal reparieren zu wollen, mußte wohl oder übel ein neues angeschafft werden.
Abgesehen davon, daß so ein Ding 100 Kilo wiegt und sich nicht leicht bewegen läßt, bietet das keine besondere Schwierigkeit. Es kostet auch nicht die Welt, sondern nur eine halbe, und so stand dank der Tat- und Muskelkraft und dem Lieferwagen eines befreundeten Klein-Bauunternehmers, das schöne Stück drei Tage später auf dem Vorplatz, in frischlackiertem Orange glänzend neben seinem Vorgänger. Vor dem Kauf hatte ich mich über die verschiedenen Modelle, Preise, Kundenkommentare und dergleichen orientiert, und bei dem favorisierten Modell eine Bemerkung gefunden, das Ding sei nicht leicht zusammenzubauen. Auf die Frage an den Verkäufer, wie sich das mit dem Zusammenbauen verhalte, meine er bloß, "Da sein lei die zwoa Radln zum Anschraufen, sonscht nix". Viel mehr war es auch nicht, ungefähr vier Teile waren mit insgesamt dreimal so vielen Schrauben am Gerät zu fixieren, und der Vorgang war genau so mühsam und zeitraubend, daß man sich fragte, warum, um alles in der Welt, in der ordentlichen deutschen Fabrik, wo schon vorher alle anderen Bestandteile zusammengeschweißt und geschraubt worden waren, nicht in einem letzten kurzen Arbeitsgang auch das noch erledigt worden war. Was kann das für einen Grund haben?
Da fiel mir das Erste Gebot von Ikea ein, das offenbar auch dieser brave deutsche Kreissägen-Fabrikant einzuhalten versuchte: Waren müssen in Teilen geliefert werden, die der Kunde dann selber zusammenbauen muß. Dieses Gebot, wie es die Art der Gebote ist, wird nicht weiter begründet, hat aber seinen tieferen Sinn. So wird der Kunde, der Stunden mit dem Zusammensetzen eines schlichten Regals verbracht hat, bis dieses endlich steht, eine innigere, ja geradezu intime Beziehung zu dem Regal entwickeln, was sonst nie der Fall sein könnte, wenn es bloß jemand anliefert und in das Eck stellt, wo der Käufer es haben will.
Alpenfeuilleton, 6.11.2020, https://www.afeu.at/gesellschaft/leben/2020/11/18776/die-neue-kreissage/
Wie üblich wollte ich auch diese Woche meinen Senf zu den großen Fragen der Menschheit bzw. über den Sinn des Lebens hier zum besten geben – doch da kam mir der heurige Klimanotstand dazwischen.
Wie Sie ohne Zweifel wissen, wurde – um der weltweit wütenden Klimakatastrophe auch hier in Innsbruck am grünen Inn Herr zu werden (oder vielleicht Frau) – vom Gemeinderat vor eineinhalb Jahren der oben erwähnte Klimanotstand ausgerufen. Später, als irgendwelche Touristiker anfragten, ob man noch ganz dicht sei, wie man die Fremden in eine Stadt locken wolle, in der so ein Notstand herrsche, hat man, glaube ich gesagt, es sei nicht so gemeint oder es sei mehr im übertragenen Sinn gedacht gewesen, jedenfalls – das Foto beweist es schlüssig: hier und heute, nur 300 Meter über der Stadt, herrscht er bereits, der Notstand. Und nicht nur das: wir haben ihn schon länger, als irgendwelche obergescheiten Klimaleutchen in der Stadt es wahrhaben wollen, nämlich seit Menschengedenken.
Nicht gerade alle Jahre, aber doch alle drei, vier Jahre wieder im Herbst wachen wir eines Morgens auf, und – die Wiese ist voller Schnee! In aller Regel sind noch einige Viecher auf der Wiese vor dem Haus, die für einen kleinen Viehbestand als Niederleger fungiert. Und diese Kälbchen oder Kühlein stehen dann mit ihren Hufen, recht unangenehm berührt, im Schnee herum, haben zu kalt, aber in erster Linie haben sie nichts zu fressen, weil das, was sie normalerweise fressen, sich nun unter dem Schnee befindet und man es auf die unter Kühen übliche Weise nicht mehr so recht zu fassen kriegt.
Also fangen sie an, recht unruhig zu werden, und nachdem der Schnee inzwischen auch die Bänder des Elektrozauns mehr oder weniger zu Boden gedrückt hat, wandern sie herauf zum Haus, in der Hoffnung, dass sie von uns etwas zu fressen kriegen oder vielleicht nur, damit sie ein bißchen eine Ansprache haben. Nun haben wir zwar auch selber Heu, aber nur so viel, wie die Hennen das Jahr über für ihre Legenester brauchen, und das ist, wenn man es mit dem Appetit einer Kuh anschaut, eher wenig. Wie auch immer, wir schütteten ihnen vorderhand zwei Körbe voll auf den ebenen Platz vor dem Haus, und da sehen Sie mich auf dem Foto, während sie fressen und ich ihnen gut zurede, auf daß sie nicht die ganze Gegend zertrampeln möchten und daß ihr Herrl eh bald käme und was zu fressen brächte und sie dann auch bald nach Hause mitnehmen würde.
Und so geschah es auch.
Alpenfeuilleton, 30. 10. 2020, www.afeu.at
Stefanie Holzer und ich haben von Anfang 2002 bis Ende 2019, also 18 Jahre lang, immer abwechselnd, wöchentlich eine Glosse für die "Tiroler Tageszeitung" geschrieben, insgesamt also irgendwas zwischen 800 und 900 Stück. Zunächst liefen sie unter dem Titel "Heiter bis grantig", später hießen sie "Gastkommentar". Mit Ende Dezember 2019 sind wir eingespart worden, denn, wie wir alle wissen, die Zeitungen müssen sparen, mit Print verdient man kein Geld mehr und mit Online noch nicht, Redakteure sind sehr teuer und werden immer teurer, je älter sie werden, und freie Mitarbeiter sind zwar nicht teuer, aber im Gegensatz zu den Redakteuren kann man sie wenigstens loswerden, damit man die Redakteure noch eine zeitlang weiter zahlen kann.
In all der Zeit sind eigentlich nur zwei Glossen ungedruckt geblieben, "weil das so nicht geht" oder so ähnlich, "das Argument ist zu wenig differenziert", was bei einer Länge von 1600 Zeichen ja ein ziemliches Kunststück wäre.
Vielleicht interessiert es den einen oder anderen, was in einer soweit durchaus seriösen Regionalzeitung nicht gedruckt werden kann.
TT-Sonntagsglosse für 21.5.2017
Ich ging durch die Altstadt. Ein warmer, heller Vormittag im Mai, eine Ahnung von Sommer und Sorglosigkeit. Die Lieferanten hummelten herum, die ersten Stadtbesichtigungskohorten zogen los und starrten brav auf das Goldene Dachl, ohne doch dessen Geheimnisse auch nur zu ahnen oder das barbusige Fräulein, das als Kunst am Bau aus dem Jahr 1500 die Westseite ziert, zu bemerken. Gutes Brot hatte ich eingekauft und einiges andere und strebte nun nachhause. Die Welt war sichtlich in Ordnung.
Da betrat ich eine ältere Dame mit Hündchen, bürgerlich gekleidet, die dabei war, eine ältere Bettlerin zu beschimpfen. Es war eine aus der Truppe, die seit einiger Zeit unsere Stadt bettlerisch beackert. Die längere Ansprache der Dame, in der viele schieche Wörter vorkamen, gipfelte in dem Satz: "Es kherts in Inn!"
Wie sorglos doch die Leute mit ihrer Wut umgehen, dachte ich, kein Gedanke daran, dass diese Idee der Bettlerbeseitigung sich als nächstes gegen eine andere Gruppe wenden könnte, zum Beispiel gegen ihre eigene, die Alten, die immer mehr werden, nichts arbeiten und uns allen auf der Tasche liegen. Sitzen wir nicht alle zusammen in einem großen Glashaus?
Wir brauchen doch die Bettler, als täglich erneuerte moralische Gymnastikübung, die uns in unserem rundum sorglosen Leben etwas an die Schicksale denken lässt, die uns erspart geblieben sind. Ich zum Beispiel würde nicht gern als Elendsdarsteller an der Straßenecke knien. Aber diesen profimäßig durchorganisierten Bettelkonzern mit meiner Spende mitzufinanzieren, dazu habe ich auch irgendwie keine Lust.
TT-Sonntagsglosse für 8.12.2019
Eines Morgenjournals war wieder einmal von vielerlei Flüchtlingen die Rede. Diesmal kamen sie aus Afghanistan, Syrien und Gambia. Also aus allen Himmelsrichtungen. Am traurigsten war die Geschichte von den Migranten aus Gambia. Die kamen gerade bis Mauretanien, und von dort wäre es noch sehr weit bis zu uns gewesen. Auch aus dem hungernden Simbabwe würden sie wahrscheinlich gerne kommen, wenn sich das technisch machen ließe. Manche wollen lieber nach Schweden, andere lieber nach Deutschland, und angeblich wollen manche sogar nach England, trotz dem schrecklichen Brexit. Sie wollen also aus aller Welt zu uns, und zwar genau in unser schnuckeliges kleines Mittel-, West- und Nordeuropa, sonst nirgendwohin. Man hört nie davon, dass absurd reiche Länder wie Saudiarabien oder moderat wohlhabende wie Argentinien irgendwelche Flüchtlinge aufnähmen oder dass solche dorthin strebten.
Ohne Zweifel kommen alle diese migrantischen Personen aus Ländern, in denen das Leben alles andere als ein Spaß ist. (Sagen darf man das aber nicht, sonst ist man islamophob oder hat etwas gegen die Dritte Welt, die jetzt korrekt "Welt" heißt, wenn sie nicht inzwischen wieder umbenannt worden ist.)
Immer dann, wenn man die Geschichte eines Einzelnen hört oder liest, ist der erste Reflex: der arme Kerl, lasst ihn doch in Gottes Namen da bei uns herein. Nun stehen aber potentiell ein paar hundert Millionen arme Kerle irgendwo auf der Welt herum und wollen bloß das eine: zu uns kommen. Auf jeden hier schon länger Aufhältigen kämen ein, zwei oder gar drei Neue. Die Preisfrage lautet: Wie soll das gehen?
Der Weihnachtsfrieden sollte ungefähr ab heute, da Sie also diese Zeitung in Händen halten und zu lesen beginnen, in Ihrer und unser aller Seelen Einzug halten. Ich meine das ausnahmsweise gar nicht satirisch, sondern ganz nüchtern und ernst. Gerade als Glossist kultiviert man ja, im Dienste der allgemeinen Meinungsbildung und des Wettstreits der Ideen, eine Art von innerer Zerrissenheit, die beim Leser, so hofft man, dann Zustimmung oder Ablehnung, im besten Fall ein beifälliges Gelächter oder ein Aha-Erlebnis bewirkt.
Selber bleibt man derart in steter Unruhe, wenn man wieder einmal den Eindruck hat, der Zeitgeist schlage besonders hohe, weite und resche Kapriolen, denen man beim besten Willen seine Zustimmung nicht geben kann, während das werte Publikum diese offenbar für völlig normal und mit dem gesunden Menschenverstand durchaus vereinbar hält. Beispiele hiefür werde ich mir an dieser Stelle verkneifen, denn wir wollen ja den Weihnachtsfrieden anstreben. Selbiger ist nur gewährleistet, wenn jeder einzelne diesen Zustand in sich herzustellen versucht, wozu in erster Linie gehört, seine nähere Umgebung, Familie, Freunde oder Arbeitskollegen wenigstens vorübergehend vor den eigenen fixen Ideen zu verschonen und den anderen, wenn sie "wieder davon anfangen", ein mehr als nachsichtiges, nämlich ein ruhiges, freundliches Lächeln zu schenken und etwas Nettes zu sagen. Und das, nämlich Lächeln und Nettigkeit, sollte auch noch einigermaßen überzeugend daherkommen. Ich weiß, das ist ganz schön viel verlangt. Aber wenn man es übt, wird es mit der Zeit leichter.
Tiroler Tageszeitung, 22. 12. 2019
Wir sind Nobelpreisträger! Nicht gerade Papst, aber schon fast so gut. Das allgemeine Wohlgefühl über die weltbeste Dichter-Auszeichnung für Peter Handke wird allerdings durch einen politischen Fehltritt getrübt. Der ist dem Meister in den neunziger Jahren passiert, als er im Zuge der jugoslawischen Katastrophe gegen alle anderen die Partei der Serben ergriff und dabei blieb und auch noch das eine oder andere Buch darüber schrieb.
Nun kann man über den literarischen Wert, die Bedeutung des handkeschen Schreibens verschiedener Meinung sein. Das ist im Grunde immer so, und in diesem Fall habe ich wenigstens einen, der meine etwas vom Mainstream abweichende Meinung teilt. Im neuen Buch des Kärntner Kollegen Egyd Gstättner steht zu lesen: "Und ich bin wieder ganz ehrlich erschüttert, welchen Käse dieser Mensch schreibt … Nebelsuppe für Nierenkranke im Endstadium!"
Peter Handke hat sein Leben lang die Kunst des Aneckens kultiviert und immer wieder einmal einen Skandal geliefert, und das hat ihm durchaus genützt – bis auf das eine Mal. Vom Schriftsteller wird ja geradezu verlangt, sich in Widerrede zu üben. Das nennt man dann "kritisch", und alle sind ganz ergriffen. Wenn die Widerrede aber so richtig in die falsche Kehle kommt, wird er gnadenlos niedergemacht, und es wird auch nichts vergessen oder verziehen. Ist er schon berühmt genug, dann kann er nicht umstandslos in den Orkus entsorgt werden, sondern es kommt ein Pallawatsch heraus wie jetzt gerade mit Peter Handke, der gern über Tolstoi und Homer reden möchte – und alle schreien ihn bloß an: "Serbien! Serbien!"
Tiroler Tageszeitung, 20.10.2019
Seit vier Jahren haben wir eine neue Geschirrspülmaschine. Da ist schon die Frage, ob man sie noch mit Fug als "neu" bezeichnen kann. Angeblich bauen die schurkischen Fabrikanten heutzutage in ihre Geräte ein kleines schadhaftes Teilchen ein, zu dem Behuf, dass selbige Maschine genau einen Tag nach Ablauf der Garantiefrist ihren Geist aufgibt. Aber wir haben eine von den teuren, die angeblich sogar noch wirklich in Deutschland gefertigt werden, und dazu so cool, dass man sie erst öffnen muss, um zu sehen, ob sie noch wäscht oder schon fertig mit dem Waschen ist. Da hat man jedesmal den Nervenkitzel, ob einem nicht eine ungewollte Flut um die Knöchel spritzt …
Neulich sickerte es mehr, und das eher seitlich, beim Abflussrohr; das war kein erfreulicher Anblick. Um eine lange Geschichte von Kundendiensten, Gebrauchsanweisungen und Internetforen kurz zu machen: erstaunlicherweise kriegten wir das Ding wieder flott, ohne dass ein Fachmann persönlich sich zu uns bequemen musste. Heureka! hieß das früher. Die Maschine spülte wieder.
Sie spülte drei oder vier Mal. Dann war Fehler F11 wieder da. Sie pumpte am Schluss nicht vollständig ab, man musste ein bißchen Lauge herausschöpfen und dann eine Art Ventil herausnehmen, durchspülen und wieder einsetzen. Dann spülte sie wieder, diesmal vier oder fünf Mal. Dann … naja, man gewöhnt sich, und so schlimm ist es gar nicht. Andere haben viel ärgere Probleme. Und immerhin ist F70 nicht mehr aufgetreten!
Tiroler Tageszeitung, 3.11.2019
Es ist interessant, an sich selber zu beobachten, wie ein neues Stück Information den Blick auf die Welt verändert. Anfang dieses Jahres fand ich eine Buchbesprechung zum Thema der weltweiten Bevölkerungsentwicklung und schrieb auch eine Glosse darüber. Vor kurzem war in der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" davon ausführlich die Rede, dass die Weltbevölkerung noch ungefähr 40 Jahre ansteigen und anschließend wieder sinken wird. Irgendwo bei neun Milliarden ist Schluss; mehr werden wir nicht mehr.
Seit ich das weiß, vergeht kein Tag ohne Nachrichten, die auf dieses Thema Bezug nehmen, ohne es allerdings zu benennen. Das fängt bei der Meldung an, dass die Gemeinde Serfaus, ein höchst erfolgreicher Tourismusort, keinen Nachwuchs mehr hat. Die Kinder ziehen alle weg. Ein Dorf in Südkorea schickt seine ganz Alten in die Schule; sonst müsste diese zusperren, Kinder gibt es keine mehr. Eine Region in Süditalien macht weltweit bekannt, dass sie Zuwanderer braucht. Die Hauptstadt von Moldawien hat in den letzten 20 Jahren 200.000 von ihren 700.000 Einwohnern verloren. Undso weiter undsofort.
Ich merke immer wieder, wie sehr die bisher dominierende Nachricht, dass die Welt nämlich bevölkerungsmäßig aus allen Nähten platzt, alles, was geschah, in ein merkwürdig düsteres Licht getaucht hat. Obwohl sich aktuell nichts geändert hat, scheinen die Probleme, die es gibt, plötzlich nicht mehr so gigantisch. Und bis dann die Panik ausbricht, dass wir jetzt endgültig aussterben, weil kein Mensch mehr Kinder kriegt, können wir das Gefühl genießen, dass auf der Welt wieder Platz ist.
Tiroler Tageszeitung, 8.12.2019
"Österreich muss pro Jahr 156.000 Autos mit alternativen Antrieben auf die Straße bringen, sonst drohen Milliardenstrafen." So konnte man kürzlich in dieser Zeitung lesen. Dem Beitrag war auch zu entnehmen, dass hierzulande erst insgesamt 30.000 E-Autos unterwegs sind (von insgesamt 4,9 Millionen). Trotz gewaltiger Propaganda-Anstrengungen ist es offenbar nicht gelungen, die Österreicher zum freiwilligen Ankauf der neuen Technologie zu bewegen. Was wird also geschehen, um die "Milliardenstrafen" zu vermeiden? Wird der Bürger gezwungen, und wenn ja, wie? Wer schreibt was vor, und wem? Und wer schickt dann die Vorladung? Oder verlassen wir uns auf private Denunzianten?
Waren vielleicht die Rauch- und Plastiksackerlverbote nur die ersten Vorboten einer netten grünen Diktatur, die uns in Zukunft beglücken wird? Ich versuche mir das ein wenig vorzustellen. So zum Beispiel unser Auto. Das kommt ein wenig in die Jahre, in absehbarer Zeit werden wir ein neues brauchen. Wird mir der Händler dann sagen: Die Diesel sind für heuer schon aus, es gibt nur noch elektrische? Oder lassen wir das Los entscheiden? Was, wenn ich lieber einen Gebrauchtwagen kaufen würde?
Und an wen werden die erwähnten "Milliardenstrafen" überwiesen? Das hatte man vergessen in den Artikel hineinzuschreiben. Wie ich den Betrieb kenne, wird es wieder die gute alte EU sein, oder war es der Weltklimarat? Beides sind Vereine, aus denen man nicht austreten kann, oder jedenfalls nur sehr schwierig, selbst wenn man zu dem Eindruck käme, dass sie ziemlichen Unfug treiben. Ein bisschen wie die Mafia, nur höflicher.
Tiroler Tageszeitung, 17.11.2019
Ich war 18 oder 19, als ich zum ersten Mal wählen durfte. Volljährig hieß das damals, ein Begriff, der heute kaum noch verwendet wird. Vom Religionsunterricht durfte ich mich schon mit 15 abmelden, die Regierung Kreisky hatte es gerade rechtzeitig in ihrer großen Weisheit möglich gemacht.
Damals kam also etwas in Bewegung, das gerne mit "Jugendkult" bezeichnet wird und auf Deutsch ungefähr sagen will: Die Alten sind blöd und wissen längst nicht mehr, wo vorne und hinten ist, den Jungen aber gehört nicht nur die Zukunft, sie dürfen auch so weit wie möglich darüber entscheiden. Einen skurrilen Höhepunkt haben die Anbiederungsübungen an die Heranwachsenden diese Woche gefunden, als Greta Thunberg vor dem amerikanischen Kongress redete und die Abgeordneten aufrief, auf "die Wissenschaftler" zu hören.
Mit 16 darf man bei uns wählen, bald darauf autofahren, aber wehe, man trinkt in diesem Alter ein Schnapsl oder zündet sich eine Zigarette an, Gott bewahre! Das darf niemals sein! Das ist doch viel zu gefährlich! Gut, beim Autofahren könnte man sagen, das wird demnächst ohnehin automatisiert oder überhaupt abgeschafft, und wenn Wahlen falsch ausgehen (nach Meinung derer, die die jeweilige Wahl verloren haben), dann gelten sie eben nicht und das doofe Volk darf noch einmal wählen gehen. Aber insgesamt scheint mir doch, dass in der Frage der Volljährigkeit eine gewisse allgemein gesellschaftliche Geistesverwirrung um sich gegriffen hat. Vielleicht wäre das angebracht, was seinerzeit der Kanzler Sinowatz in der Frage der Hainburger Au ausgerufen hat: eine Nachdenkpause.
Tiroler Tageszeitung, 22. 9. 2019
Personalfragen bei der Österreichischen Nationalbank interessieren mich normalerweise eher weniger. Bloß wirkte es irgendwie penetrant, wie in den stündlichen Nachrichten auf Ö1 beharrlich darauf hingewiesen wurde, an dem neuen "FPÖ-nahen" Nationalbank-Gouverneur "reiße die Kritik nicht ab". Dieser, wie es ein andermal hieß, "parteifreie, aber FPÖ-nahe" Herr habe versucht, eine Dame im Alleingang aus der Firma zu werfen, die neben einem zweiten den schönen Familiennamen Konrad führt. Sie ist die hochbegabte Tochter eines sehr langjährigen österreichischen Bankchefs, der zugleich bedeutendes Mitglied einer der zwei Parteien ist, die ehedem Österreich unter sich aufgeteilt hatten.
Direktoren der Nationalbank waren bisher die Herren Raidl und Kothbauer, schwarz und rot, Gouverneur der Herr Novotny, nicht nur rot, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten durch seine verschiedenen Parteiämter bekannt. Ob seine Funktion als Direktor der Bawag/Psk eher als politische oder wirtschaftliche zu sehen ist, wollen wir dahingestellt sein lassen, es war wohl auch nicht direkt lustig, dem altehrwürdigen Institut vorgesetzt zu werden, während es gerade im Zuge einer sogenannten Affäre den Bach hinunter ging. Wenigstens verdanken wir diesen Ereignissen das Zitat: "Das Geld ist nicht weg, es ist nur woanders." (Wolfgang Flöttl)
Zugegeben, die Nachrichten im Radio bekämen eine etwas monotone Note, wenn immer bei jedem dazugesagt würde, welche Partei ihn geschickt hat. Aber vielleicht wäre es den Versuch wert. Es könnte uns helfen, besser zu begreifen, wie Österreich so funktioniert.
Tiroler Tageszeitung, 6. 10. 2019
Angeblich sind wir in unserer total vernetzten Welt über sechs Ecken mit allen Menschen auf dieser Erde bekannt (früher, vor der Vernetzung, waren es sieben). Bei manchen notorischen Zeitgenossen sind es auch weniger Ecken. So habe ich einen Jugendfreund, der eine zeitlang sein Glück in Abu Dhabi versuchte und dort geschäftlich mit der Familie Bin Laden zu tun hatte, der ja eine große Baufirma gehört. Ebenso wenige Ecken sind es beim Spross der monegassischen Herrscherfamilie Pierre Casiraghi. Bei uns wohnte nämlich um 1960 "das Fräulein Duregger", wie man damals sagte, in Untermiete. Sie war später als Kindermädchen bei der Familie Casiraghi beschäftigt und hat also Pierres Vater, dem bei einem Bootsunfall tödlich verunglückten Andrea, den Popo geputzt und aufgepasst, dass er nicht von der Schaukel fiel. Ich interessiere mich sonst weniger für Fürstenhäuser aller Art, aber beim Namen Casiraghi denke ich immer an das Fräulein Duregger und das elegant oval-länglich geformte Nachttischlämpchen und die nicht weniger fesche Fünfzigerjahr-Tapete in ihrem Zimmer.
So auch jetzt, als ich las, dass der Sohn des Dureggerschen Schützlings nun mit Greta Thunberg auf einer Super-Luxus-Renn-Segeljacht über das weite, wilde Meer nach New York schippert. Ich habe einmal – freilich auf einer viel weniger tollen Jacht – einen nächtlichen Sturm auf dem Meer erlebt. Da kann ich nur hoffen, dass dieses arme, von skrupellosen Erwachsenen für einen abscheulichen Kinderkreuzzug missbrauchte Mädchen wenigstens heil über den Atlantik kommt. Sie bräuchte dringend jemanden wir das Fräulein Duregger.
Tiroler Tageszeitung, 25. 8. 2019
Seit ich wenn schon nicht alt, so doch älter werde, fallen mir manchmal Sachen ein, die früher besser waren. Es sind nicht viele, und die Zahnmedizin gehört sicher nicht dazu. Man muss nicht bis zu Wilhelm Buschs Zahnzieh-Geschichten zurückgehen, auch der eine oder andere Gedanke an die eigene Jugendzeit genügt, um einen mit leisem Gruseln vor der Vergangenheit zu erfüllen.
Und weil die Zahnmedizin heutzutage so gut ist, muss der einschlägige Patient natürlich auch besser werden. Jedesmal, wenn sie meine still und beschaulich vor sich hin bröselnden Zahnhälse betrachtet, schaut mir meine Zahnärztin ganz lieb und eindringlich ins Auge und sagt: "Sie sollten da regelmäßiger mit der Zahnseide dran. Diese Zahnhalskaries, die kriegen wir sonst nie in den Griff." Ich sage daraufhin "Mhm", denn mehr kann man mit dem ganzen Metallgerät im Mund ja schwer sagen, und so habe ich mir wieder einmal eine Packung Zahnseide gekauft.
Damit war ein Anfang gemacht. Um allerdings an die Verpackung dieser Packung zu kommen, musste ich mein Taschenmesser zur Anwendung bringen. Das passiert mir immer öfter. Druckerpatronen, Batterien, Glühbirnen (oder wie das heißt, was man ihrer Stelle heutzutage nimmt), alles und jedes ist in eine Sorte von Massiv-Kunststoff eingehüllt, dass man nur noch mit roher Gewalt und einer Portion Glück an das Produkt selber kommt. Oder bin ich dafür zu blöd, und alle anderen schaffen das spielend? Ich riskiere jedesmal Schnitt- und Stichverletzungen aller Art. Also die Verpackungen waren früher besser. Oft waren sie nicht einmal vorhanden, das war das beste.
Tiroler Tageszeitung, 8. 9. 2019
Die grüne Weltanschauung, der viele von uns frönen, hat neben anderen Merksätzen diesen: Die Tiere, die draußen in der Natur wohnen und ein Fell und vier Beine haben, sind ganz, ganz lieb. Sollte irgendeines von ihnen einmal nicht lieb sein, so ist selbstverständlich, man möchte sagen naturgemäß, der Mensch dran schuld. Das ist nicht nur bei den Wildtieren so, sondern auch bei den Haus- und Nutztieren – man denke an unsere Almkühe, die immer wieder wegen grober persönlicher Attacken auf Hundebesitzer und andere auffällig werden; neulich hat sich sogar ein Schaf arg danebenbenommen.Zu den besonders lieben zählen Bären aller Art, schon weil wir alle früher einmal einen kleinen solchen aus Stoff im Bett hatten, und dann alle diese Pandas und die niedlichen Eisbären auf ihren Schollen! So ist es geradezu logisch, dass gelegentlich bei uns einwandernde Bären willkommen sein müssen. Wie sie in diesem kleinen, engen, dichtbevölkerten Land Platz haben sollen, ist ein wenig die Frage. Sie sollte uns aber nicht zu sehr schrecken. Vielleicht haben die Pitztaler ein Einsehen und ziehen aus, dann könnten wir rundherum einen Zaun bauen und hätten das tollste Reservat.
Nun macht andererseits so ein Zaun kein schönes Bild. Lassen wir also besser die neuen Bärenbürger an den gastlichen Steilhängen unserer Täler sich ansiedeln. Und sollte doch einmal einer von ihnen einen von uns schnabulieren – dann gehe ich davon aus, dass sich in jener schweren Stunde ein Experte findet, der uns darlegt, dass bei der Geschichte der Mensch eigentlich der Böse und der Bär bloß überfordert war.
Tiroler Tageszeitung, 11. 8. 2019
Heuer haben wir unsere Auslandsferien auf einem Hausboot verbracht. Wir befuhren die Saône, einen geradezu unfassbar ruhigen französischen Fluss mit vielen, vielen Windungen und dazwischen ein paar Schleusen, und obwohl wir uns mitten in Mitteleuropa befanden, hatte man streckenweise das Gefühl, in einem fernen, geradezu exotisch leeren Land zu reisen.
Es lag nicht nur an dem stark verlangsamten Reisetempo – mit so einem Boot schafft man 30 km, höchstens 40 km am Tag, – vor allem lag es an der ungewohnten Optik. Eine Woche lang schaukelten wir ganz leicht und sehr langsam zwischen vielen, vielen Büschen und Bäumen dahin. Von Zeit zu Zeit tauchte dahinter ein Kirchturm auf, und manchmal konnte man anlegen, ins Dorf gehen und einkaufen und einen Kaffee trinken. Manchmal galt es eine Schleuse zu passieren, damit die Mannschaft nicht allzu schläfrig wurde. Wenn man abends am Pier einer kleinen Stadt anlegte, wo es auch noch ein Restaurant gab, war das schon fast außergewöhnlich.
Meistens beschäftigte man sich mit Gebüsch, dazu Seerosen, Schwäne, Reiher, Raubvögel, Fische, eine Ringelnatter, ein Kormoran; dann und wann kam ein anderes Boot entgegen, saß am Ufer ein Angler, oder ein paar Radfahrer huschten vorbei. Ganz nebenbei bekam man eine Lektion über die Flussschifffahrt und die ausgefuchste technische Einrichtung, die alle diese Wasserstraßen zwischen Frankreich und Polen seit dem 19. Jahrhundert befahrbar macht.
Das Wort "Entschleunigung" wird heutzutage oft und gern verwendet. So entschleunigt wie nach dieser Sommerfrischwoche am Fluss waren wir uns überhaupt noch nie vorgekommen.
Tiroler Tageszeitung, 28. 7. 2019
Es war einer der lauen Abende der letzten Zeit, und ich wartete an einer Straße in der Innenstadt, um ein Auto vorbeizulassen. Dessen Fenster standen offen, man konnte die vier jungen Männer, die darin saßen, nicht nur sehen, sondern auch hören. Sie hatten es sehr lustig. Gerade als sie mich passierten, schrie einer heraus: "Oachkatzlschwoaf!!" Statt mich zu erschrecken, was sie wohl vorgehabt hatten, erfreuten sie mich. Jemand kannte also dieses Tiroler Kunstwort noch, das früher Auswärtigen zum Nachsprechen geboten wurde, weil man innertirolisch der Meinung war, es sei so unverständlich und unaussprechlich wie nur je ein Zungenbrecher.
Mittlerweile, jedenfalls unter den städtischen Jugendlichen, hört sich die traditionelle Mundart so ziemlich auf und macht einem niedlichen Kauderwelsch Platz, das ungefähr dem Bundesdeutsch nachgebildet ist, das die Bundesdeutschen selber für Hochdeutsch halten. Am auffälligsten dabei ist der Ersatz von auffi, eini, außi, abi usw. durch rauf, rein, raus und runter. Nachdem alle österreichischen Journalisten das in ihrem Schreiben und Sprechen auch so halten, wird es sich wohl durchsetzen. In meinen Ohren scheppert es immer noch, aber so geht es, wenn man nach und nach zum alten Eisen zählt.
Kürzlich durfte ich allerdings lesen, dass in der wiener Jugendsprache einige Dialektörter wie "zach" in Mode gekommen sind. Und schließlich haben drei meiner vier Großeltern auch nicht Tirolerisch, sondern Österreichisch gesprochen. Das ist das – um es ausländisch zu sagen – Coole an den Zeitläuften: man weiß doch nie, wie es kommt.
Tiroler Tageszeitung, 14. 7. 2019
Wir beschäftigen uns in dieser Glosse immer mit den schwierigen Fragen unserer Zeit. Heute geht es um eine unbeantwortbare. Der westliche Mann wurde bisher darauf getrimmt, die Frauen in Augenschein zu nehmen, zum Zwecke der Partnerwahl und auch im allgemeinen, weil die Frau als etwas Schönes galt und Schönheit als bewundernswürdig. Nun hat man in der bildenden Kunst die Schönheit abgeschafft, und Frauen anzuschauen gilt mittlerweile schon beinah als strafwürdiges Verhalten, sozusagen als Vorstufe zur Vergewaltigung. In Berlin hat man das Gedicht eines frauenbewundernden Mannes, das als Kunst im öffentlichen Raum eine Hauswand zierte, deswegen schon entfernen lassen.
Die Frauen machen aber in der Mehrzahl keine Anstalten, sich dementsprechend unauffällig herzurichten, um nicht dauernd als potentielle Sexualobjekte durch die Gegend zu laufen. Eher scheint mir das Gegenteil der Fall. Jetzt, in der warmen Jahreszeit, wird man praktisch flächendeckend von weiblichen Oberkörpern in T-Shirts umschwirrt, auf denen zu allem Überfluss auch noch etwas Effekthascherisches geschrieben steht. Da kann ein passionierter Leser wie ich nicht wegschauen. Ich lese Sachen wie "Sweet little nothing"; neulich las ich "happy" und "sharia" und dachte noch gar nichts, sondern schaute noch einmal hin, da stand dann gottseidank, gar nicht schräg, sondern mehr lieb: "sharing".
Die nächsten, geläuterten Generationen, die der LGBT-Religion anhängen, werden das Problem nicht mehr kennen. Für mich bleibt die Frage: wohin soll ich noch schauen, wenn ich den neuen strengen Moralvorstellungen genügen will?
Tiroler Tageszeitung, 30. 6. 2019
Das Denken überlasst den Pferden, die haben die größeren Köpfe, hat unser Geografielehrer immer gesagt. Jetzt überlassen wir das Denken den Maschinen. Das ist oft eine sehr gute Sache, man muss tatsächlich nicht alles selber machen. Nur manchmal hakt es ein bisschen. Da hat mein E-Mail-Postfach beschlossen, Zuschriften, die ich ihm schon als "keine Werbung" angezeigt hatte, doch als Werbung zu klassifizieren. Irgendwann merkt man das, findet im Unerwünschte-Werbung-Ordner Reste, und unter dem Motto "Alles muss man dir zweimal sagen" sagt man es ihm eben noch einmal. Vorderhand ist er brav, aber man weiß natürlich nicht, was ihm als nächstes einfällt.
Dann hat meine praktische Internet-Bankverbindung befunden, sie könne sich nur immer entweder um mein Konto kümmern oder um das meiner Frau, das ich auch betreue. Beide zugleich gehen nicht. Der zuständige Support rät mir, eben zwei verschiedene Server zu verwenden. Ist nicht gerade elegant, KI-mäßig, aber bitte.
Meine neueste Begegnung mit den modernen Zeiten geschah, als ich jüngst das Fenster öffnete, es war der erste richtig warme Tag, ich wollte etwas von der Frühlingspracht zu mir hereinlassen und schaute also auch hinaus. Doch da – was war das? Etwas hing vor mir in der Luft. Es war eine Drohne. Filmte sie mich? Belastendes Material? WK beim Nichtstun und aus dem Fenster Schauen? Zum ersten und bisher einzigen Mal in meinem Leben hatte ich Sehnsucht nach einer Handfeuerwaffe. Das Ding mit einem gezielten Schuss herunterholen! Aber wenn ich es verfehlte und mein Treiben dann auch noch mit auf dem Film wäre?
Tiroler Tageszeitung, 9. 6. 2019
Auf dem Platz vor unserem Haus steht, neben mehreren holzfarbenen Bänken, seit ungefähr einem Jahr auch eine bunte Bank. Ich bin schon ungefähr achthundertmal an ihr vorbeigegangen und habe es eigentlich nett gefunden, dass da so etwas Buntes steht – wiewohl unsere Stadt längst nicht mehr so grau ist, wie sie früher war, im Gegenteil vor Buntheit geradezu strotzt.
Kürzlich erst fiel mir auf, dass an der Lehne ein Schildchen angebracht ist, und weil ich immer alles lese, was mir vor die Augen kommt, las ich auch dieses. Da steht geschrieben: "Diese Bank setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Akzeptanz und Gleichberechtigung der LGBTIQ Community." Ich bin natürlich wie jeder Mensch für Akzeptanz und Gleichberechtigung, wie soll ich nicht dafür sein? Und dass ich da vergattert werden soll, mich an dem modischen Gender-und-es-gibt-jetzt-52-verschiedene-Geschlechter-Zirkus zu beteiligen, weiß ich trotz meines fortgeschrittenen Alters auch gerade noch. Aber da müsste ehrlicherweise diese Bank einen Beipackzettel bekommen, der die Abkürzung LGBTIQ im einzelnen erklärt, und das zumindest in den häufigeren der vielen Sprachen, die man in unserer Weltstadt heutzutage auf der Straße hört. Denn gerade unseren frisch Eingewanderten dürfte das Konzept aus ihrer Heimat noch noch nicht so geläufig sein und müsste ihnen im Zug einer gelingenden Integration näher gebracht werden. Und dann fällt mir der renommierte Gynäkologe DDr. Johannes Huber dazu ein, der irgendwo anmerkt, dass er in seiner langen Karriere eigentlich nur zwei verschiedenen Geschlechtern begegnet sei.
Tiroler Tageszeitung, 19. 5. 2019
Den Ton angeben, das ist wichtig, denn die Oberhoheit über die Wörter bedeutet eine politische Dominanz. Daher auch die bereitwillige Erregung, wenn das rechte Lager mit einem neuen Wort daherkommt, um seine Ansichten und Ziele darzustellen. Diesmal lautet der Begriff "Bevölkerungsaustausch". Er stammt anscheinend von dem französischen Schriftsteller Renaud Camus, der ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, dass durch vermehrte Einwanderung aus anderen Kulturen die eigene einen "Identitäts- und Kulturverlust" erleide. Bei Mölzer & Haider hieß das einst "Umvolkung". Die Linke, die die Masseneinwanderung tendenziell für eine gute Sache hält, nennt deren Ergebnis hingegen optmistisch "multikulturelle Gesellschaft".
Bei den Vereinten Nationen, wo man sich auch mit solchen Sachen beschäftigt, wurde das selbe als "replacement immigration" bezeichnet. Dort findet man die Angabe, dass, bei der bekanntlich schwächelnden Fortpflanzungsfreude der industrialisierten Länder, zum Beispiel Deutschland eine halbe Million Einwanderer im Jahr bräuchte, um die Zahl an Erwerbstätigen gleich zu halten. Ohne Zweifel dürfte sich mit einer entsprechenden Änderung der ethnischen Zugehörigkeitsverhältnisse einiges im Land ändern, zumal in der europäischen Realität die Einwanderer im wesentlichen aus muslimischen Ländern kommen.
Das könnte auf die Dauer tatsächlich kulturelle und rechtliche Änderungen bewirken, und man kann geteilter Meinung sein, ob man das möchte. Durch aggressive Wortklauberei, wie sie bislang zu beobachten ist, wird man dem Kern der Debatte wohl nicht näher kommen.
Tiroler Tageszeitung, 5. 5. 2019
In letzter Zeit hat fast alles, was es gibt, mit dem Klimawandel zu tun. Sollten wir, was Gott verhüten möge, wieder einmal einen original Tiroler Sommer bekommen, mit Regen von Anfang Juni bis Anfang September und dreimal Schnee bis zum Mittelgebirge, wird das selbstredend auch an der Erderwärmung liegen unter dem beliebten neueren Naturgesetz: "Es wird kälter, weil es wärmer wird."
Naturgemäß widmen sich die neuen Naturfilme auch besagtem Thema, was schon deshalb etwas keck ist, weil große Teile des Globus erst seit kurzem erforscht werden und man kaum weiß, wie es zuvor dort war. Dass da der eine oder andere, vom Zeitgeist getrieben, über die Stränge schlägt, kann nicht verwundern. Seit vor 40 Jahren das Waldsterben ausgerufen wurde und wir alle daraufhin dürre Bäume im Wald entdeckten, ist jeder empfänglich für solche Sachen geworden.
Den Vogel, oder besser gesagt das Walross abgeschossen hat neulich der beliebte Naturfilmer David Attenborough ("Our Planet", auf Netflix, die Szene finden Sie auch auf YouTube). Da drängen vor laufender Kamera Walrösser auf einer hohen Klippe nahe am Meer über felsig-abschüssiges Gelände, und eines stürzt dabei zu Tode – Ursache siehe oben. Eine Forscherin meinte, die wahrscheinlichere Ursache sei ein Angriff durch Eisbären. Unter dem Motto "Nichts Genaues weiß man nicht" macht man auf jeden Fall schwache Kenntnis durch starke Meinung wett. Darauf sprechen begeisterungsfähige Kinder und Jugendliche besonders gut an, ein Schauspiel, das zurzeit viel Zustimmung erhält, mir aber eher peinlich bis makaber erscheint.
Tiroler Tageszeitung, 14. 4. 2019
Wir leben hier ja gottseidank mitten im Wald, "fern von Europa", wie einmal ein halblustiges Buch über uns hieß, noch ganz gemütlich. Mit den vielen, die von weiter draußen, aus den dicht bevölkerten Tiefebenen zu uns zum Schifahren kommen, sprechen wir meistens über selbiges und selten über den Wahnsinn, der dorten in den großen Städten von Leuten zusammengekocht wird, die offenbar gar nichts zu tun (so in der Art von Arbeit) haben und stattdessen, erleichtert durch das Internet, mit Gleichgesinnten ständig daran sind, die Welt zu retten, und das auf jedem denkbaren Gebiet.
So hören wir aus Deutschland dieser Tage, dass in den Kindertagesstätten die Regeln für die frühkindliche Faschingsverkleidung endlich auf die Höhe der politischen Korrektheit gebracht wurde. So ist es nicht mehr angängig, sich als Cowboy (bewaffnete Gewalttäter!) oder Scheich (Islamophobie und so) zu verkleiden. Gut hat mir auch gefallen, dass "Indianer" als Kostümwahl ebenfalls nicht mehr geht. Dies sei eine Diskriminierung der amerikanischen Ureinwohner. Der Begriff stehe im Zusammenhang mit der seinerzeitigen teilweisen Vernichtung dieser Bevölkerungsgruppe, die es aber überdies als solche gar nie gegeben habe. Sie müssen hier nicht versuchen, das auch noch zu verstehen. Verstehen soll der Mensch bloß, dass es hier ein paar neue Regeln gibt, denen gefälligst zu folgen ist, nach dem altbewährten Schema "Maul halten und kuschen". Das hat man bei uns von früher her politisch eher rechts verortet, nun kommt es zur Abwechslung von links. Das macht es moralisch natürlich viel höherstehend.
Tiroler Tageszeitung, 24. 3. 2019
Selten hat man den Eindruck, den historischen Moment genau sehen zu können, an dem sich etwas unwiderruflich verändert. Manchmal sind es große Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer, manchmal kleine oder vielmehr keine. Da ist bloß ein Zeitungsartikel über ein vor kurzem erschienenes Buch, und mit einem Mal schaut die Welt ganz anders aus als noch gerade eben: Mit Anfang dieses Jahres wurde nämlich die Bevölkerungsexplosion abgesagt, die Leute meines Alters ihr Leben lang als Horrorvision begleitet hat. Zwar hält die UNO vorderhand daran fest (aus welchen Gründen immer), doch eine wachsende Zahl an Bevölkerungsforschern kommt zum gegenteiligen Ergebnis: die Weltbevölkerung wird in etwa 20 Jahren irgendwo zwischen acht und neun Milliarden Menschen stagnieren und dann zu sinken anfangen. Die treibende Kraft ist die Verstädterung. Binnen kurzem werden zwei Drittel aller Menschen in Städten wohnen, und Städter, das wissen wir von uns selber, bekommen nur sehr wenige Kinder. China, das im letzten Jahr bereits 1,27 Millionen Einwohner verloren hat, musste 2016 feststellen, dass die Aufhebung der Ein-Kind-Politik nicht zu einer Erhöhung der Geburtenrate führte, im Gegenteil sackte diese weiter ab und wird das auch weiterhin tun. Was die Industriestaaten vormachen, macht der Rest der Welt dann nach, mit etwas Zeitverzögerung, über deren Ausmaß die Experten streiten. Jedenfalls finde ich die Nachricht bemerkenswert und wollte sie Ihnen deshalb nicht vorenthalten. Ob das nun eine gute Nachricht oder eher doch eine schlechte ist, lässt sich seriöserweise noch nicht abschätzen.
Tiroler Tageszeitung, 10. 3. 2019
Der Metzger meines Vertrauens – an diesem Tag war es die Metzgerin, die Dienst hatte – schaute weniger freundlich drein als üblich, genaugenommen schaute sie richtig griesgrämig drein. Sie könne mir das Suppenfleisch und die zwei Knochen, die ich brauchte, nicht verkaufen, der Computer ginge nicht, in den anderen Filialen auch nicht, in einer halben Stunde ginge er wieder, hätten sie gesagt. Ich machte meine Runde fertig, da war die halbe Stunde um, der Computer ging aber immer noch nicht. Mußten wir für Mittag umdisponieren, das ist schließlich "kein Drama", wie unsere Kinder sagen, wenn sie eine nicht so gute Note geschrieben haben.
Aßen wir halt was anderes, und im übrigen war es nicht das Stromnetz, sondern bloß ein kleines Computer-Netzwerk. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich komisch, aber ich muss in solchen Momenten trotzdem an die berühmte "Energiewende" denken. Wir stellen alles Denkbare und auch das Undenkbare auf Strom um, sodass ohne Strom definitiv überhaupt nichts mehr geht, und zugleich schalten wir die Kraftwerke, die verlässlich Strom liefern, ab und wollen uns in Zukunft auf Sonne und Wind als Lieferanten verlassen, die scheinen und wehen, wann sie wollen. Und dann bauen wir die Speichertechnologie aus, in Zukunft, irgendwann, irgendwie. Selbst wenn wir annehmen, dass die Experten in Sachen Klima als erste und einzige die Zukunft kennen: Würden Sie für den Fall einer solchen in Ausmaß und Auswirkungen ungewissen Bedrohung als erstes das Energie-Grundversorgungssystem potentiell lahmlegen, mit der Zusicherung, das würde dann schon irgendwie gehen?
Tiroler Tageszeitung, 3. 2. 2019
Das zwanzigste Jahrhundert in Böhmen
Über Josef Skvorecky
Sein hierzulande fast unleserlicher und unaussprechlicher Name war wohl einer der Gründe, warum der 1924 in Náchod geborene und 2012 in Toronto verstorbene Josef Skvorecky bis heute im literarischen Fegefeuer der Geheimtips verharrt. Seinen ersten Roman, „Feiglinge“, schrieb er 1948/49; 1958 konnte dieser während einer kurzen Aufhellungsphase in der nachstalinistischen CSSR erscheinen. Er selbst beschrieb die unmittelbare Wirkung so: „(…) meine Schwiegermutter, eine einfache Frau aus dem Volke, bot mir an, meine Wertsachen und Sparbücher zu verstecken. Meine Frau transportierte meine Manuskripte zu meinem Vater nach Náchod, der sie bei einem Freund in einem 20 Kilometer entfernten Bergdorf versteckte. Es sah ganz so aus, als würde ich eine verspätete Gelegenheit bekommen, Beschäftigung im Uran-Bergbau zu finden. Doch Stalin war seit sechs Jahren tot, und so versäumte ich die Gelegenheit und gelangte stattdessen über Nacht zu literarischer Berühmtheit.“ 1969 erschien eine deutsche Übersetzung bei Luchterhand, und 1986 noch einmal in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ als Band 16. Bei dieser Gelegenheit hatte ich das Vergnügen, die Bekanntschaft mit diesem umwerfenden Panorama der kleinen ostböhmischen Stadt Kostelec in den Tagen vom 4. bis 11. Mai 1945 zu machen, an deren Befreiung das alter ego des Autors, der junge Danny Smiricky, eben noch unfreiwillig bei der Firma Messerschmitt im Flugzeugbau beschäftigt, nun mitwirkt. Aber diese gewisse Begeisterung, die es braucht, um Geschichte zu machen, die geht ihm ab: „Ich war außerstande, Es lebe die Tschechoslowakei! oder so etwas Ähnliches zu rufen. Vielleicht weil Tschechoslowakei ein so dämlich langes Wort ist, aber ich könnte etwas anderes rufen: Es lebe der Frieden! oder so, doch ich brachte es nicht fertig. […] Ich freute mich, daß Schluß war mit dem Protektorat, sah aber keine Notwendigkeit, mich deswegen wie ein Verrückter zu benehmen. Und es war mir peinlich, wenn man das von mir verlangte.“
Mit der Publikation von „Eine prima Saison. Ein Roman über die wichtigsten Dinge des Lebens“ gelang es, das Interesse im deutschen Sprachraum wieder anzufachen, indem der damals ambitionierte, heute aus der Bücherwelt verschwundene Wiener Deuticke Verlag ab 1997 eine Reihe von Skvoreckys Büchern, etliche davon erstmals auf Deutsch, herausbrachte. Und nun, im jüngstverflossenen Jahre des Herrn 2022, hat es in Wien wieder einer versucht, mit einem neuen Titel (Josef Skvorecky, Der siebenarmige Leuchter, aus dem Tschechischen von Hanna Vintr, Braumüller Verlag, Wien 2022, 190 S.).
Es handelt sich um das, was man früher einen Novellenkranz genannt hätte. In sieben Geschichten, so viele, wie der titelgebende Leuchter Arme hat, durchstreift der Erzähler die untergegangene Welt seiner Kindheit, in jenem Städtchen, das in der Wirklichkeit Náchod heißt und in der Fiktion Kostelec – und wo die meisten seiner Geschichten spielen. Was sich hier, mehr als sonst, in den gewohnten leichten, humorvollen Ton mischt, den man von ihm gewohnt ist, ist eine geradezu allumfassende Traurigkeit: die Helden dieser Geschichten zählen sämtlich zum jüdischen Teil der Bevölkerung, und sie sind allesamt nicht mehr da. Niemand weiß genau, wo sie geblieben sind, beziehungsweise enden die Lebensläufe alle sehr ähnlich, nämlich ungefähr so: „Bob der Killer reiste am Tag darauf ab, gemeinsam mit den zwei Löbl-Brüdern, mit Mifinka und den zwei alten jüdischen Müttern. Er fuhr nach Theresienstadt und von dort weiter in östliche Gefilde, wo zerstörtes Kriegsgerät ebenso rauchte wie die Schlote der Krematorien, und wo seine Asche von der schweigsamen Erde aufgenommen wurde.“
Extra der Wiener Zeitung, letzte Lieferung, Frühling 2023
Der Familienname: Jeder hat einen, und kaum jemals denkt man darüber nach, was er bedeutet oder woher er kommt. An manchen Wendepunkten des Lebens, zum Beispiel wenn geheiratet werden soll, rückt er plötzlich ins Rampenlicht – man kennt das und kann sich leicht ausmalen, zu welchen Komplikationen es dabei kommen kann. Manche Namen werden als »komisch« empfunden, obwohl sie ursprünglich sicher nicht komisch gemeint waren: Schoißwohl, Himmelfreundpointner. Kommt er aus einer anderen Sprache, kann man ihn sich schlecht merken (Deldaripanah, Abdelazeem), gibt es davon genügend, deren Träger "schon länger hier wohnen", und hat man vielleicht von der zugehörigen Sprache eine Ahnung, geht es leichter: Prochaska oder Montecuccoli.
Und dann sind da die jüdischen Namen. Eine große Zahl von ihnen ist offensichtlich deutsch, sie werden als "komisch" empfunden, und es umgibt sie eine merkwürdige Aura des Besonderen, auch wenn der in Frage stehende Mensch Maier oder Bauer heißt. Was hat es mit ihnen für eine Bewandtnis?
Im Zuge der so genannten Polnischen Teilungen wurde das Königreich Polen ab 1772 sukzessive unter die Nachbarmächte aufgeteilt; der südliche Teil kam unter österreichische Verwaltung. Es war nicht nur die Zeit des Absolutismus, sondern auch der Aufklärung, und diese beiden Strömungen führten in der Person der damals Herrschenden, also der russischen Zarin Katharina, des Preußenkönigs Friedrich und unseres Kaisers Joseph, zu einer jeweils sehr eigen gemischten Art von Herrschaft. Man kann versuchen, sich das vorzustellen: ich, von Gottes Gnaden Kaiser, König usw. habe, einerseits, die Weisheit mit Löffeln gefressen, nicht zuletzt dank der lebhaften Brieffreundschaft mit den führenden Geistern der Zeit (die in jenen Tagen so ziemlich alle ihren Wohnsitz in Paris hatten), und in meinem Reich geschieht alles genauso, wie ich es haben will – aber andererseits, natürlich und bedauerlicherweise ist da auch das Volk, das später Heinrich Heine so treffend als "den großen Lümmel" titulierte. Dieser Lümmel folgt nie so richtig, wenn man es wieder einmal besonders dringend von ihm will. (Man merkt schon die Parallele zu unserer heutigen Zeit.)
Im neuen Reichsteil, der den schönen Namen "Königreich Galizien und Lodomerien" erst jetzt bekam, sah Joseph die hervorragende Möglichkeit, seine tatsächlich zahlreichen und vielfältigen Reformideen sozusagen auf der grünen Wiese zu verwirklichen. Diese Ideen standen unter dem übergreifenden Motto der "Toleranz", was nun (jedenfalls in der Praxis) nicht unbedingt bedeutete, daß eine Andersartigkeit der Untertanen, welcher Art auch immer, willkommen gewesen wäre, sondern eher im Gegenteil. Sie (die Untertanen) waren für den Geschmack des Herrschers im Endeffekt viel zu verschieden und sollten etwas gleicher, handhabbarer gemacht werden. Es ging darum, die "Subjekte" des Fürsten für die Verwaltung "lesbar" zu machen; dazu diente alles mögliche, etwa die allgemeine Schulpflicht, die flächendeckende Einführung von Familiennamen, oder auch die (zu dieser Zeit erfundenen) Hausnummern. Es ging, man ist versucht natürlich zu sagen, um Steuerlisten, die Erfassung der Wehrtauglichen, die Gültigkeit von Unterschriften auf Verträgen und anderen Dokumenten und dergleichen mehr.
Als besonders schwer "lesbar" wurden – nicht überraschend ¬– die jüdischen Untertanen empfunden. Sie hatten ihre absonderliche Religion, ihre eigene Kleidung, sie hatten ihre komische Sprache, von der gesagt wurde, sie hätten sie gewissermaßen extra erfunden, damit man sie nicht verstünde und sie somit die Betrügereien, die man ihnen ebenfalls routinemäßig nachsagte, besser ausführen konnten. Tatsächlich hatten sie sogar zwei davon, nicht nur das Hebräische, sondern vor allem die Alltagssprache, also Jiddisch. Darin lag eine Ironie der Extraklasse, daß in einer Zeit der vom Schulsystem noch kaum angetasteten Dialekte (die so stark gewesen sein müssen, daß wir heutigen, könnten wir ihnen lauschen, darüber ziemlich staunen würden) ausgerechnet diese dem Deutschen so ungemein nahe Sprache als völlig unverständlich empfunden wurde. Dem Kaiser Joseph schwebte vor, als Verwaltungssprache im ganzen Reich nach Möglichkeit das Deutsche einzuführen. Das war noch vor der "Erfindung" des Nationalismus, es entsprang dem – aufklärerischen! – Nützlichkeitsprinzip. Große Teile der Beamtenschaft in den verschiedenen Kronländern waren schon bisher deutschsprachig gewesen und das Deutsche als Verkehrssprache immerhin einigermaßen verbreitet.
Nur folgerichtig, daß bei einem weiteren dringend zu ändernden Punkt auch auf das Deutsche zurückgegriffen wurde: bei den Familiennamen. Bei den Juden gab es in aller Regel das, was es bis heute in vielen Sprachen und etwa in Island fast ausschließlich gibt, nämlich Vatersnamen. Manchmal fungierten auch Spitznamen als eine Art Familiennamen, wohlhabendere Familien folgten dem Vorbild der Adligen und hatten sich bereits Familiennamen im modernen Sinne zugelegt.
Es war also in der Zeit kurz vor 1800, da kamen die Juden zu ihren berühmten "komischen" Namen. Wie das im einzelnen vor sich ging, diese Frage hat während der vergangenen 250 Jahre, also bis heute!, erstaunlicherweise noch keinen Wissenschaftler interessiert. Bisher existierte lediglich eine Art moderner Sage, nämlich die vom bösartigen, antisemitischen österreichischen Beamten, der die neuen Namen zu vergeben hatte und sich bemühte, den Betroffenen so lächerliche wie nur möglich zu geben. Von "Spott-" oder "Ekelnamen" war da die Rede, und wie man weiß, geistert die Fama von den lächerlichen Namen nicht nur durch die Literatur, sondern auch durch die jüdischen Witze und ist gewissermaßen Allgemeingut.
Erst in unseren Tagen, nämlich im Herbst 2021, ist ein umfangreiches Werk dazu erschienen. Wie es manchmal passiert, stellt es das bisherige Wissen so ziemlich auf den Kopf beziehungsweise vom Kopf auf die Füße. Im Verlauf der Lektüre wird einem nämlich klar, daß es sich bei der oben skizzierten Geschichte tatsächlich um eine Sage handelt – nachzuweisen ist sie in dem ungemein reichhaltigen Archivmaterial, das der Autor, der Historiker Johannes Czakai, durchgeackert hat, bis auf seltene Einzelfälle nicht. Nach dem damaligen Maß des allgemeinen Antisemitismus ist leicht vorstellbar, daß es derartige Beamte gab - doch was sich tatsächlich feststellen läßt, ist nicht mehr und nicht weniger als das vor sich hin Werken einer mehr oder weniger tüchtigen, mehr oder weniger überforderten Bürokratie, die das tat, was sie allüberall und bis auf den heutigen Tag tut: sie macht Dienst nach Vorschrift.
Im übrigen hatte Joseph zunächst nur an die Vornamen gedacht, und zunächst wurde eine Liste "akzeptabler" solcher erstellt. Das waren in der Regel die aus der Bibel stammenden, von denen etliche ohnehin von Christen und Juden gleichermaßen verwendet wurden und bis heute werden. Die Geschichte mit den Familiennamen entstand dann aus einer Art "Stille-Post-Fehler". Die Wiener Zentrale ordnete die Einführung neuer Vornamen an – und in Galizien begann man, als habe man schlecht gehört, mit der Festlegung deutscher Familiennamen. Als das Werk so weit gediehen war, daß es kaum noch rückgängig gemacht werden konnte, meldete man pflichteifrig nach Wien, daß "diese Abänderung der Vornamen nicht mehr bewerkstellet werden könnte, und man eben aus diesen wichtigen Betrachtungen des gehor(samsten) Ermessens ist, die deutsche Benennung der Juden lediglich auf die Geschlechts Namen zu beschränken".
Das Bild, das sich im Detail bietet, ist sehr vielgestaltig. Meist war es offenbar willkommen, wenn die zu Benennenden schon Vorschläge mitbrachten, es gab auch routinemäßig jüdische Beisitzer, die bei der Prozedur mithalfen. In einer Gegend wurden lauter Ortsnamen als Nachnamen vergeben, die der zuständige Beamte aus seiner alten Heimat im Schwäbischen offenbar noch im Kopf hatte. Vielleicht hatte er Heimweh? Da wurden gern galizische Ortsnamen als Nachnamen vergeben, bis man bemerkte, daß die polnischen Adeligen traditionell häufig solche Namen trugen, und das durfte natürlich nicht sein, daß Juden plötzlich von Amts wegen adelige Namen trugen. Also mußte oder sollte das wieder rückgängig gemacht werden. So geschehen etwa beim Nochem des Titels, einem Lemberger Kleinhändler, von dem man sonst fast nichts weiß, außer daß er es in seinem Leben auf vier verschiedene Failiennamen brachte: zuerst Bilker, dann Baltstein (das mit dem adeligen "Waldstein" verwechselt werden konnte), dann Balstiner, dann Boldstirer.
Woher kamen die Namen, wie wurden sie gebildet? Insgesamt ähnelt das Material sehr dem, was es in anderen europäischen Ländern gab: Berufsbezeichnungen, körperliche oder sonstige Auffälligkeiten, die Herkunft, ein Vorname oder eben ein Spitzname. Und hier kommt eben eine größere Anzahl stets zweiteiliger erkennbar "künstlicher" Namen nach dem Muster "Goldstein" hinzu. Des weiteren ergab sich durch die Verschriftlichung und das danach immer fortgesetzte Abschreiben eine Menge von Quell Entstellungen und Mißverständnissen. Das "Komische" der Namen daran lag womöglich in der josefinischen Idee, ausschließlich deutsche Namen zu verwenden, also solche, die ihre Träger mehrheitlich gar nicht verstanden; und daß diese Familiennamen, anders als alle übrigen, nicht scheinbar auf natürlichem Weg entstanden waren, sondern "künstlich" und alle auf einen Schlag. (Da fällt einem übrigens die Parallele zur zwangsweisen Italianisierung der deutschen Südtiroler während der faschistischen Ära ein; wahrscheinlich ließen sich weltweit ähnliche Vorgänge auffinden.)
Etwas von dem "Komischen" einer solchen konzertierten Aktion hat sich im allgemeinen Bewußtsein gehalten und wurde dann, erzählerisch, mit dem erwähnten bösartigen Beamten verquickt. Das hinderte allerdings nicht, daß ein Teil der Betroffenen die neuen "deutschen" Namen als Prestige-Zugewinn empfanden; andere schenkten ihnen keine Beachtung, wieder andere versuchten nochmals andere Namen anzunehmen, um sich dem Zugriff der Behörde zu entziehen.
Mit Josephs Tod 1790 erlosch der Reformeifer, der vorher schon sehr unterschiedlich stark ausgebildet gewesen sein dürfte, dann völlig. Was blieb, bis heute, sind die Namen.
Es ist leider nicht möglich, die Fülle des in diesem Buch ausgebreiteten Stoffes auch nur annähernd zu zeigen, ich kann sie nicht einmal andeuten (allein die Geschichte des Namens "Geizhals"!), ohne den Rahmen der Veranstaltung völlig zu sprengen. Ich kann nur abschließend feststellen, daß mir selten ein so lesenswertes Buch über ein scheinbar so abseitiges Thema untergekommen ist. Das schon recht verbrauchte Wort "spannend" drängt sich auf. Die übergroße Zahl an Fußnoten sollte einen nicht schrecken. Bevor sie zu sehr irritieren, kann man sie ja einfach still beiseite lassen.
Nicht zuletzt läßt die Lektüre einen über die allgemeine Geschichte der Familiennamen sinnieren und etwa über die Herkunft derjenigen, die in der eigenen Familie zusammengefunden haben, und welche Wege durch die Zeiten und Länder sie genommen haben mögen.
PS
Nachdem ich diesen Text fertiggeschrieben hatte, wirkte die Frage in mir noch nach: Warum sollten ausgerechnet die jüdischen Familiennamen aus Galizien um 1800 um so vieles lächerlicher oder irgendwie lustiger sein als alle anderen? Oktroyiert wurden Namen immer wieder und werden es bis heute weltweit, und was an, meinetwegen, Finkielkraut lustiger sein soll als an Hebenstreit (stammt aus dem südtiroler Pustertal; so hieß meine Urgroßmutter), wird bei Lichte besehen nicht klar. Mein Vorschlag zur Güte: Die europäische Geistes- und sonstige Geschichte bedenkend, nehmen wir einmal an, die Juden hätten auch um 1800 oder kurz nachher ihre weltberühmte Witzkultur schon gehabt, entstanden aus ihrer vielsprachigen Tradition und aus dem Bedürfnis,sich auf diese Weise etwas der Bedrängung zu erwehren, in der sie sich dauernd befanden. Ergo machten sie sich über die neu zugeteilten Namen lustig, und eben dieses Selberlustigmachen wurde dann umgehend von der missgünstigen nichtjüdischen Umwelt dahingehend gewendet, dass es sich bei den infragestehenden sozusagen "faktisch" um lächerliche Namen handle. Vielleicht fällt jemandem etwas Besseres ein.
Johannes Czakai, Nochems neue Namen. Die Juden Galiziens und der Bukowina und die Einführung deutscher Vor- und Familiennamen 1772–1820. Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 560 S.
Walter Klier
Extra der Wiener Zeitung, 27.11.2021
Wie kommt es, daß der mörderische Kommunismus, der zum Beispiel in der Sowjetunion unter Stalin etwa zwanzig Millionen Menschenleben gefordert hat (nach vorsichtigeren Schätzungen), immer auch für einen Witz, für ein Gelächter gut ist und jedenfalls noch niemandes Ruf besonders beschädigt hat, wenn er etwa in seiner Jugend derartigem angehangen ist - daß aber der zeitgleich (wenn auch viel kürzer) wütende mörderische Nationalsozialismus gar nicht lustig gefunden wird, selbst wenn es nur um indirekteste Verbindungen dazu geht? Dies ist die Frage, die, grob gesprochen, Martin Amis in seinem 2002 erstmals erschienenen Buch umtreibt. Hierzulande wird das Phänomen der, sagen wir es einmal vorsichtig, ungleichen Behandlung der zwei Totalitarismen gewöhnlich schlicht und einfach – und auch plausibel – damit beantwortet, daß das eine Mega-Verbrechen sich ja eben hier in unserem Land zugetragen habe und uns deshalb ungleich mehr angehe.
Da ist es eben interessant zu sehen, wie es auf dem Territorium des historisch in beide Richtungen ziemlich unverdächtigen England dabei zugeht: nämlich ganz gleich wie bei uns. In einer Fußnote gegen Ende des Buches wählt Martin Amis ein österreichisches Beispiel: "Wenn der Österreicher Haider eine von Hitlers beschäftigungspolitischen Maßnahmen preist, speit Europa ihn würgend aus wie ein verdorbene Auster. Der Russe Putin preist Stalin, betet Stalin nach ('die Oligarchen als Klasse liquidieren') und plant, Münzen mit Stalins Profil prägen zu lassen. Er wird in Downing Street 10 empfangen und trinkt Tee mit der Queen…"
Als Österreicher ist man ja gewissermaßen angehalten, psychoanalytisch zu denken. Und psychoanalytisch gesehen, könnte man die mit den Jahren immer intensiver werdende Vergangenheitsbearbeitung unserer Linken in bezug auf den Nationalsozialismus als Deck-Aktivität interpretieren, um die "eigene" ideologische Vergangenheit (die ja beileibe nicht nur Rußland betrifft) im Dunkel zu belassen. Aber es ist eben mehr als das. Denn da ist dieses Gelächter. Immer wieder im Lauf seines Lebens begegnet Martin Amis diesem Gelächter, wenn die Rede auf "linke Vergangenheit" kommt, etwas, das ja in den besten Kreisen, und besonders dort, vorkommt. Rechte Vergangenheit ist hingegen gar nicht lustig. "Ist das der Unterschied zwischen dem kleinen Schnurrbart und dem großen Schnurrbart, zwischen Satan und Beelzebub? Der eine provoziert spontane Wut, und der andere provoziert spontanes Gelächter? Und was für ein Lachen ist das? Es ist natürlich das Lachen allgemeiner Zuneigung zu der alten, alten Idee von der vollkommenen Gesellschaft. Es ist auch das Lachen des Vergessens. Es vergißt die in dieser Hoffnung unbewußt verwurzelte dämonische Energie. Es vergißt die zwanzig Millionen."
Man wird immer wieder versuchen, eine oder auch mehrere Antworten auf diese Frage, die zwei großen Finsternisse des zwanzigsten Jahrhunderts betreffend, zu geben. Es werden wohl auch immer wieder andere Antworten sein. Wichtiger ist zunächst nur, die Frage überhaupt zu stellen. Martin Amis, nach eigenem Urteil ein unpolitischer Romanschreiber, und nicht nur nach meinem ein guter dazu, hat nach der Lektüre eines ganzen Regals von Literatur zum Sowjetkommunismus und zum Stalinismus im besonderen sein Entsetzen über das, was geschehen ist und was man (zum Teil wenigstens) nachlesen kann, ein lesenswertes Buch geschrieben, das letztlich auch viel mehr Frage als Antwort darstellt. Vielleicht ist es die homöopathische Dosis Sowjetgeschichte, die vielleicht etwas im Organismus der latent immer noch (oder schon wieder) kommunismusverliebten europäischen Intelligenz zu bewirken vermag, was den allopathischen Gaben von Solschenizyns Archipel Gulag nicht gelungen ist.
Walter Klier
Martin Amis: Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2007. 296 S.
Als inzwischen schon etwas ältere Leser haben wir unser Leben mit diesem kleinen Übersetzungsproblem zugebracht: insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika bringen am laufenden Band Schriftsteller hervor, deren hervorstechendes Merkmal der virtuose Gebrauch von Umgangssprache in allen denkbaren Spiel- und Lesarten ist. Nun hat das Deutsche keine derartige Umgangssprache, sondern Dialekte. Es gibt kein Rezept, kein approbiertes Verfahren dafür, wie man das umgangssprachliche Amerikanisch in ein angemessenes Deutsch bringen könnte. An den nach 1945 allgegenwärtigen Hemingway-Übersetzungen von Annemarie Horschitz-Horst ist jahrzehntelang herumgemäkelt worden, ich erinnere mich noch mit großem Vergnügen an Robert Gernhardts diesbezügliche Weihnachtsgeschichte "Glück – oder hat Literatur Folgen?" aus dem Bändchen "Glück Glanz Ruhm" …
Vermutlich liegt bei Stephen Crane ein ähnliches Problem vor. In den USA gilt er als einer der großen Klassiker der 19. Jahrhunderts, hier auf der anderen Seite des Atlantiks kennen ihn bestenfalls Englisch-Studenten; von seinem bekanntesten Werk, "The Red Badge of Honour", existieren fünf Übersetzungen ins Deutsche, die im Lauf der Jahrzehnte unter vier verschiedenen Titeln veröffentlicht wurden; nun ist eine sechste erschienen. Und mir scheint, dass der Übersetzer den scharfen, geradezu knackigen Tonfall des Originals nicht wirklich trifft, weder in den erzählten Passagen noch in der direkten Rede. Nicht genug damit, dass ein Text im Deutschen sowieso schon länger wird, als er im Englischen war, scheint er durch mehr Wörter mehr Stimmung und Farbe hineinbringen zu wollen. So wird gleich anfangs aus dem Grün der Landschaft "frisches Grün", und aus "When he had finished" wird "Als er die geplanten Truppenbewegungen erschöpfend geschildert hatte". Auch die direkte Rede wird auf merkwürdig langatmige Art breit und lang gewalzt, und so war, was ich las, dem Original durchaus ähnlich, aber eher wie eine nicht ideal geratene Nacherzählung.
Stephen Crane, Die rote Tapferkeitsmedaille, Roman. Übers. von Bernd Gockel. Pendragon Verlag, Bielefeld, 2020, 318 S.
Wiener Zeitung, Extra, November 2020
Es ist Nacht, die letzte Nacht, bevor die letzte Hafenstadt in diesem Bürgerkrieg fällt, die letzte Chance, das kleine Lieblingsleben noch aus dem völligen Zusammenbruch zu retten – oder gibt es längst keine Chance mehr? Ein selbst für die Verhältnisse dieses Autors besonders düsterer und dabei, ganz im klassischen Sinne, überaus spannender Roman, sein erster überhaupt, entstand nach Erzählungen glücklich entkommener Spanien-Kämpfer (Juan Carlos Onetti, Für diese Nacht, Roman. Übers. von Svenja Becker, Suhrkamp Verlag Berlin, 2020, 247 S.). Onetti wollte, wie so viele junge Idealisten Mitte der dreißiger Jahre, dringend nach Spanien, um auf der Seite der Guten zu kämpfen. Von dem, was sein Kollege George Orwell "die strahlenden Hoffnungen und den zynischen Betrug" der spanischen Republik nannte, ist in diesem Buch, wie in der Wirklichkeit, nur das zweitere geblieben.
Durch einen glücklichen Zufall bin ich auf die vermutlich lustigste Geistergeschichte der an solchen reichen englischen Literatur gestoßen (Richard Middleton, Das Geisterschiff, übers. und hrsg. von Andreas Nohl, Steidl Verlag, Göttingen 2020, 127 S.). Nahe einem südenglischen Dörfchen, 50 Meilen vom Meer, weht der starke Sturm eines Nachts besagtes Schiff auf den Acker des Wirtes, wo es liegenbleibt und wegen des exquisiten Rums, den man direkt an Bord ausschenkt, zum Hotspot für die Gespenster des Ortes wird. Abgesehen von der Titelgeschichte lernt man einen ungemein empfindsamen, punktuell heiteren und dann wieder unbeschreiblich traurigen jungen Erzähler von vor 100 Jahren kennen.
Wir befinden uns hier in einer neuen Buchreihe mit dem romantisch angehauchten Titel "Nocturnes", dessen zweiter Band uns mit einem hierzulande kaum bekannten französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts bekannt macht, der auf eine eigenständige und -artige Weise Romantik und Realismus mischt (Prosper Merimée, Tamango. Drei Novellen. Übers. von Arthur Schurig und W. Gerhard. Steidl Verlag 2020, 123 S.). Die Titelgeschichte erzählt von den finstersten Seiten einer sowieso schon finsteren Sache, nämlich vom Sklavenhandel, und dementiert ganz nebenbei die heute grassierende Auffassung, dass dieser einerseits von Europäern erfunden und ausschließlich ausgeübt worden sei und andererseits um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich allseitiger Zustimmung erfreut habe.
Seit einigen Jahren hat sich der umtriebige Berliner Verlag Matthes & Seitz des argentinischen Schriftstellers César Aira und seiner ungezählten, stets sehr kurzen Romane angenommen. Wenn ich von dem ausgehe, den ich nun gelesen habe (Die Wunderheilungen des Doktor Aira. Roman, übers. von Christian Hansen, 2020, 109 S.), dann handelt es sich bei ihm um einen entfernten Verwandten von Thomas Pynchon, dem es ebenso wie dem amerikanischen Großmeister einen Heidenspaß bereitet, ausgehend von realen Situationen die Erzählung selbst auf Abenteuer zu schicken, je bizarrer, desto besser. Wenn man sich nicht zu sehr darauf versteift, die Auflösung dieses Erzähl-Knotens in Erfahrung zu bringen, also wissen zu wollen, was es denn mit den Wunderheilungen des Titels "wirklich" für eine Bewandtnis habe, dann hat man mit dem Doktor Aira sicher sein Vergnügen.
Wiener Zeitung, EXTRA, 28.11.2020
Vortrefflich wird eine Sorte Frauen gern genannt, und zwar von den Frauen und Männern, die mit ihnen zu tun haben und sich ganz offenbar selber nicht so vortrefflich dünken. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund leben diese Vortrefflichen allein, haben, wie man landläufig herzlos zu sagen pflegt (oder pflegte), keinen abgekriegt, und sind, gerade deshalb?, eben jene, bei denen die weniger Vortrefflichen um Trost, Rat und Hilfe einkommen, wenn in ihrem vergleichsweise bewegten Leben wieder einmal Turbulenzen auftreten. Die Frau ist weggelaufen nach einem wüsten Streit, in der Abwasch türmt sich das Geschirr, und der Verlassene hat nur noch die Kraft, sich einen Stock höher zu schleppen. Dort wohnt Mildred, die Ich-Erzählerin und Heldin, und kocht ihm Tee, tröstet ihn, sie wird auch einen Brief an die Weggelaufene schreiben in Sachen der Möbel, die irgendwie aufgeteilt werden müssen, und den Abtransport überwachen.
Barbara Pyms bekanntester, 1952 unter dem Titel "Excellent Women" erschienener Roman ist nun auf deutsch wieder aufgelegt worden, und das ist ein großes Glück, jedenfalls für Leute wie mich, die sich bei der Schilderung dieser potentiell endlosen Reihe kleiner, mittlerer und auch winzigkleiner Katastrophen schieflachen und gleichzeitig sich des Grusels kaum erwehren können, den die minutiöse Beschreibung des gewöhnlichen, normalen Lebens mit sich bringt. Andere, sagen wir, eher spannungs- und fantasy-affine Leser mögen das fad finden, mir allerdings war die Frage, ob die kokette Mrs Gray am Ende den Pastor heiraten wird und was dann aus dessen reizender Schwester werden soll, die bisher für ihn gesorgt hat, suspense genug.
Es ist nicht nur die, wie die auf der vierten Umschlagseite zitierte Anne Tyler sagt, "herzzerreißende Lächerlichkeit des Alltags", deren Evokation die schier zeitlose Qualität von Pyms Prosa ausmacht, es ist dieser durchdringende und zugleich milde Blick auf das Gewebe des Alltags überhaupt. Wie Philip Larkin, ein anderer ihrer Bewunderer, einst anmerkte, macht Barbara Pym uns den Mut bewusst, den es braucht, um sich den kleinen Herausforderungen jedes neuen Tages zu stellen.
Genau davon handeln, mit nie nachlassender Intensität und Genauigkeit, auch ihre anderen Romane. 2020 hat der DuMont Verlag erfreulicherweise einen zweiten auf Deutsch herausgebracht, "In feiner Gesellschaft" (No Fond Return of Love, 1961). Da betreibt die Heldin, die der aus den "Vortrefflichen Frauen" sehr ähnelt, zwischendurch kurz eine Art Selbsterforschung. "Was nützt mir mein Auge für solche Details?, sinnierte Dulcie. Eine Schriftstellerin bin ich nicht, ein Privatdetektiv auch nicht. Eine Gabe wie meine bereichert das Leben, sollte man denken, aber so oft ist das, was man beobachtet, weder lustig noch spannend, sondern nur beunruhigend." Am Ende hat diese Gabe nicht nur die Bücher von Barbara Pym bereichert, sie bereichert nun, viele Jahre später, auch unser Leser-Leben, hoffentlich auch in weiteren Bänden dieser schönen und souverän übersetzten Ausgabe.
Barbara Pym, Vortreffliche Frauen, Roman. Übers. von Susanne Roth, DuMont Buchverlag 2019, 349 S.
In feiner Gesellschaft, Roman. Übers. von Susanne Roth, DuMont Buchverlag 2020, 349 S.
Wiener Zeitung, EXTRA, 21.11.2020
Das Buch hat einen netten altmodischen Titel, der nur aus dem Namen der Hauptfigur besteht, wie "Effi Briest" oder "Daniel Deronda", und der Held zeigt uns mit seinem Namen auch gleich an, worum es hier geht: um Helden nämlich. Da haben wir eine Erzählerin, ein offensichtliches Selbstportrait der Autorin, die da, nicht mehr jung an Jahren, sich Gedanken macht über den Begriff des Heldischen in unserer, wie so gern und modisch gesagt wird, "postheroischen Zeit". Mit jener gelassenen und dabei sehr wachen Ironie, die sie mit dem geschätzten Vorläufer, ihrem Landsmann Theodor Fontane, verbindet, beschreibt sie, wie sie ihren bürgerlich-gebildet-fortschrittlichen Freunden auf die Nerven fällt, bloß indem sie wiederholt von ihren Lektüren in Sachen Heldentum erzählt und sich um eine aktuelle Begriffsbestimmung bemüht, da ja die Frage bleibt, ob man einen solchen fast menschheitsalten Begriff so einfach aus der Liste der klassischen Tugenden streichen könne.
Und dann die Zufallsbekanntschaft mit dem Herrn Lanz, von dem hier nur berichtet sei, daß er als Physiker an einem Institut arbeitet, das sich mit vogelschonenden Beschichtungen für Windräder beschäftigt, und der am selben Institut einen guten Freund mit einem nicht minder sprechenden Namen hat: Gerald Hauschildt. Dieser Hauschildt gehört nun zu den anstregenden Zeitgenossen, die die ganze Theorie vom menschengemachten Klimawandel und der fatalen Wirkung des Gases CO2 für einen ausgemachten Schwindel halten – und damit nicht genug, er muß auch noch auf Facebook dementsprechend polemisieren und auf das Bonmot kommen, die diesbezügliche Politik führe uns geradewegs in ein "viertes Reich". Und da kommt es dann, durch die Denunziation einer Kollegin, an dem Institut zum Eklat, von wegen der Herr Doktor Hauschildt beharre nicht nur auf einer total unwissenschaftlichen und, hört!, hört!, politisch rechten Position, sondern schade damit auch unmittelbar dem Institut, für das er arbeite.
Und da, bei der entscheidenden Sitzung, erhebt sich nun die Frage, ob der stille, schüchterne, geradezu ängstliche Artur Lanz, der überdies nichts von der wissenschaftlichen Sicht seines Freundes hält, im Namen der Meinungsfreiheit schließlich doch für ihn eintreten wird. Mit ihrem Lebenshintergrund der jugendlichen DDR-Dissidentin, die 1988 in den Westen übersiedelte, bietet Monika Maron hier auf brillante Weise ein Lehrstück aus der heutigen Lage der Meinungsfreiheit, die, zunächst doch sehr überraschend, nicht nur in englischsprachigen Landen, sondern auch in Deutschland unversehens ein Luxus geworden ist, den sich, von ein paar notorischen Pensionisten abgesehen, kaum noch jemand leisten kann und will.
Monika Maron, Artur Lanz, Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2020, 220 S.
Wiener Zeitung, Extra, 5.10.2020
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2077118-Deutsche-Helden-anno-2020-Artur-Lanz-von-Monika-Maron.html
Regelmäßige Leser dieser Kolumne werden es längst wissen: selbiger eignet, was man auf Englisch bias und auf Deutsch so nett Schlagseite nett, und zwar eine starke, in bezug auf Bücher und Themen, die etwas mit den britischen Inseln zu tun haben. Das hat, wie so vieles, zuvorderst individuelle, biografische Gründe. Vor langer Zeit verbrachte ich einmal ein Jahr in einer grauen Stadt an der Nordsee verbracht und fing dort an, Bücher auf Englisch zu lesen, womit ich bis heute nicht mehr aufgehört habe.
Wenn ich nun in einem Buch auf diesen an sich unbedeutenden, für allerdings bedeutsamen Ort stoße, ist es mir ein besonderes Fest. Genaugenommen ist es mir erst zweimal passiert, zuerst in den achtziger Jahren. Als Paul Theroux auf seiner britannischen Rundreise 1982 hier vorbeikam (Paul Theroux, The Kingdom by the Sea, 1983), besuchte er dasselbe städtische Schwimmbad plus Sauna, das, in Ermangelung eines eigenen Badezimmers, fünf Jahre vorher für meine Reinigiung zuständig gewesen war. Das Äußere des Gebäudes ließ ihn an "a Russian interrogation headquarters" denken. Das zweitemal begegnete mir "meine" Stadt nun im fünften von Tuvia Tenenboms Abenteuerbüchern (Tuvia Tenenbom, Allein unter Briten. Eine Entdeckungsreise. Übers. von Karen Witthuhn, Suhrkamp Verlag Berlin 2020, 497 S.). Im Gegensatz zu allen anderen Reisenden fährt Tenenbom hier nicht durch, sondern nächtigt im noblen Hotel Indigo, das es zu meiner Zeit noch nicht gab, und isst in dessen Restaurant "phänomenal gut", etwas, das ihm vor vierzig Jahren an diesem Ort kaum passiert wäre. Was es damals schon gab und was anscheinend bis heute nicht geschwunden ist, das ist die Armut. Unser Autor kommt in "eine Gegend namens Hilltown" (dort wo es gleich nördlich der Innenstadt steil bergauf geht), und "dieser gottverlassene Ort riecht nach extremer Armut". Wie wahr. Damals gab es in der Hilltown zwei Fish&Chips-Shops, die ich gerne um elf Uhr abends, wenn die Pubs schlossen, noch aufsuchte, und dann ging ich essend und mich wie üblich mit dem Fett bekleckernd hinüber in die William Street, wo ich wohnte. Diesmal ist das "Erlesen" ausnahmsweise ein literarisches Rätsel. Um welche Stadt handelt es sich? Der erste Einsender erhält jene Flasche schottischen Whiskys zugesandt, die ich vor ebenfalls schon ziemlich vielen Jahren kaufte und die aber, weil unsere Trinksitten sich änderten, bis heute unversehrt geblieben ist.
Ein Stück weiter südlich, im Norden von Yorkshire, und um einige Jährchen früher, nämlich 1946 spielt ein neuer Roman (Benjamin Myers, Offene See, Roman. Übers. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. DuMont Verlag, Köln 2020, 267 S.). Ein junger, sehr junger Mann wandert kurz nach Kriegsende ziellos im Land herum auf der Suche nach etwas anderem als dem Kohlerevier, aus dem er kommt. Das ganz andere findet er südlich von Whitby in einer recht einsamen Bucht in Gestalt einer älteren, vollkommen unkonventionellen Frau, die dem Jungen die Dinge des Lebens näher bringt. Insgesamt eine etwas gezierte Angelegenheit, doch ist die herbe und doch einnehmende Landschaft jener Gegend schön eingefangen.
Wiener Zeitung, EXTRA, 15.6.2020
www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2063826-In-der-grauen-Stadt.html
Ein junger Mann aus einem der sehr ländlichen Teile des Landes geht in die Stadt, um sein Glück zu versuchen. Sein geliebter und verehrter Großvater sagt: "Du wirst nicht wiederkommen." Nicht im Konjunktiv, im Indikativ. Denn es war immer so. Eine alte Geschichte. Doch auch das Gegenteil ist wahr: ein paar wenige kehren wieder zurück, und nicht etwa, weil sie in der Stadt gescheitert wären. Dieser junge Mann tut es, mit Frau und Kind, und mehr noch: er wird Bauer wie sein Großvater. Er lebt zwar hauptsächlich weiter vom Schreiben, aber was ihn beseelt und worüber er nun zu schreiben anfängt, ist das Leben auf dem Lande, das er eben jetzt lebt. Dessen absolute Steigerungsstufe ist erreicht, als er beschließt, auf die altertümlichste denkbare Weise ein ganzes Jahr nicht nur zuzubringen, sondern buchstäblich zu überleben: als Jäger und Sammler. So heißt denn auch das Buch, das wir in Händen halten (John Lewis-Stempel, Mein Jahr als Jäger und Sammler. Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben. Aus dem Englischen von Sofia Blind. DuMont Verlag, Köln 2019, 351 S.). Nimmt man das ernst, ist es gar nicht leicht, sondern im Gegenteil ein ganz schön wildes Unterfangen, wie jeder gleich einsieht, der auch nur so ein bisschen auf dem Lande lebt. So wird, was zunächst wie eine Art Sachbuch daherkommt, bald zu einem nervenzerfetzenden Abenteuerroman: wird er der Versuchung erliegen und aus dem Kühlschrank eine Wurst entwenden? Wird die Zubereitung des XY-Krauts oder des YX-Vogels in etwas Genießbares münden. – Denn die restliche Familie lebt ganz normal "heutig" weiter, während der pater familias durchs Gebüsch hirscht und versucht, eine Taube oder ein Kaninchen zu erlegen, und das unter penibler Einhaltung der geltenden Naturschutzbestimmungen …
In einem späteren Band beschreibt der selbe Autor ein Jahr lang Tag für Tag ein Stück Wald, das er gepachtet hat (J.L.S., Im Wald. Mein Jahr im Cockshutt Wood. Übers. von Sofia Blind. DuMont Verlag, Köln, 2020. 284 S.). Mehr beschaulich als spannend, eine zugleich obsessiv und träumerisch-poetisch daherkommende Naturbetrachtung.
Ein anderer junger Mann beschließt, in ganz schlechten Zeiten die berühmte weltweit längste Eisenbahnfahrt zu unternehmen und eine Reportage darüber zu schreiben (Andreas Wenderoth, Mit Ach und Krach nach Wladiwostok. Transsibirische Reise. Picus Verlag Wien, 1999, 137 S. ). In der Tat, das glaubt man dem Autor gleich einmal, sind die letzten Jelzin-Zeiten furchtbar. Doch wann hat es Rußland je gute Zeiten gegeben?
Ganz und gar und ausschließlich heutig und überhaupt eines der besten in dieser Saison der besonders guten Bücher ist eines, dessen Autor in dieser Zeitung bereits ausführlich interviewt wurde (Jonathan Coe, Middle England, Roman. Übers. von Dieter Fuchs und Cathrin Hornung. Folio Verlag, Wien und Bozen 2020, 477 S.). Deshalb ergeht hier nur der dringende Hinweis: bitte unter allen, selbst den widrigsten Umständen lesen!
Wiener Zeitung, EXTRA, 8. 8. 2020
www.wienerzeitung.at/meinung/blogs/litblog/2070651-Vom-Leben-auf-dem-Lande.html
Er war ein vielseitiger Theatermensch (unter anderem Miterfinder der Salzburger Festspiele und Direktor des Theaters in der Josefstadt) und ebensolcher Autor; einmal sehr bekannt, wird er es, wenige Jahrzehnte nach seinem Tod, anscheinend und verdientermaßen, wohl wieder: die Rede ist von Ernst Lothar (1890–1974), dessen größter Bucherfolg, "Der Engel mit der Posaune", 1948 mit Paula Wessely und Paul und Attila Hörbiger verfilmt, 2016 den Auftakt für die Neuauflage seines literarischen Werkes bildete. Nun erscheint also, mit dem Erinnerungsbuch "Das Wunder des Überlebens", sozusagen die nichtfiktionale Version dieses bewegten Lebens.
Es ist die urösterreichische Version der Geschichte, die wir schon etliche Male zu lesen bekommen haben, und wie jedesmal wieder, und obwohl die Tatsache, dass wir sie lesen können, schon davon zeugt, dass sie dieses Mal gut ausgeht, oder so einigermaßen glimpflich, sitzen wir auf Nadeln, bis sie es endlich geschafft haben, also in den Vereinigten Staaten von Amerika gelandet sind: Ernst Lothar mit Tochter und Gattin Adrienne Gessner. Der Neubeginn ist hart, denn das, was der Schriftsteller und die Schauspielerin können, ist ja im wesentlichen ihre Muttersprache Deutsch. Nun gilt es Englisch zu lernen und das Gelernte unverzüglich anzuwenden, und das aus einem Zustand der Armut und Hoffnungslosigkeit, der die beiden manchmal an Selbstmord denken ließ, die dem Tod da gerade eben von der Schaufel gesprungen waren.
Es ist fast wie im Märchen. Von Lothar beginnen Bücher auf Englisch zu erscheinen, und Adrienne Gessner hat ein Engagement in einem erfolgreichen Stück und tourt unablässig durch die Staaten, die währenddessen, als Draufgabe gewissermaßen, sich darangemacht haben, das in Europa wütende Verbrecherregime niederzukämpfen. Bald bekommen Lothar und Gessner die amerikanische Staatsbürgerschaft, es wird alles gut, ziemlich gut sogar, wenn da nicht der eine große nicht vergehenwollende Schmerz wäre, ein Heimweh von odysseischen Dimensionen, von heroischer Unvernunft, möchte man sagen: es wäre alles gleich, oder fast alles, könnte man nur wieder heim, nach Österreich. Dabei stammt man, wie ungefähr die Hälfte aller Österreicher, aus Brünn, also aus einem Staatsgebilde, das es auch 1938 längst nicht mehr gegeben hat, und aus einem Land, dessen Bürger sich, zum Teil, unserem Autor gegenüber so niederträchtig verhalten hatten, wie es nur vorstellbar ist. Sei es wie es sei, der Krieg ist aus, Deutschland besiegt, Österreich existiert wiederum, nichts wie hin! In seinem einfühlsamen Nachwort hat Daniel Kehlmann diese Erinnerungen zur "Pflichtlektüre" erhoben. Da kann man ihm gerne beipflichten. In einem Zeitalter, wo ein giftiger und reflexhafter Anti-Patriotismus herrscht (zu dem regelhaft ein ebenso reflexhafter Antiamerikanismus gehört) tut es zwischendurch gut, das Buch eines, wie es früher hieß, "glühenden österreichischen Patrioten" zu lesen.
Ernst Lothar, Das Wunder des Überlebens, Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020, 381 S.
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2058266-Ernst-Lothar-Das-Wunder-des-Ueberlebens.html
Weil er ein "außergewöhnlich zuverlässiger, gewissenhafter und fleißiger" Lehrer ist, darf der junge George Harpole vorübergehend die Stelle des Schuldirektors einnehmen, da selbiger sich für ein halbes Jahr vom Dienst freistellen lässt, um diese Zeit an der sonnigeren englischen Südküste zu verbringen gedenkt. So tauchen wir zusammen mit dem beflissenen Mr Harpole in den Schulalltag in einem Kaff in Yorkshire mit seinen tausend skurrilen Kleinig- und Widrigkeiten, wir lernen schlimme Schüler kennen, nette und faule Schüler, Eltern und Lehrer aller Art und nicht zuletzt den Hausmeister, der Harpole gleich am ersten Tag seine erste empfindliche Niederlage bereitet. Das Ansinnen, zur Hebung des allgemeinen Patriotismus allmorgendlich die Nationalflagge zu hissen, wird mit Hilfe des Schulamts und der Hausmeistergewerkschaft volley abgeschmettert. Überhaupt zeigt sich recht bald, dass Mr Harpole die Kräfteverhältnisse an seinem pädagogischen Institut in jeder denkbaren Hinsicht schlecht eingeschätzt hat … man leidet mit ihm und fürchtet sich für ihn vor jener größeren Katastrophe, die ständig dräut, doch freilich, gottseidank, am Ende ausbleibt. Das Vergnügen an der Sache kommt nicht zuletzt daher, dass jeder selber einmal ein Schüler war, und auch wenn man mit den Feinheiten des englischen Schulsystems nicht vertraut ist, so macht das gar nichts: das Schulische an sich kommt einem doch überaus bekannt vor (J. L. Carr, Die Lehren des Schuldirektors George Harpole, Roman. Übersetzt von Monika Köpfer, DuMont Verlag, Köln 2019, 288 S.).
Das Leben der sogenannten einfachen Leute dient gerne als Vorlage für Literatur, und wenn es sich auf dem Lande abspielt, kommt es üblicherweise in den Kategorien "Heimat-" und "Anti-Heimatroman" daher. Beide Möglichkeiten bringen notwendig eine Stilisierung mit sich, wodurch dieses Leben von nebenan mit einem Mal exotisch, geradezu fremdartig auf uns wirken kann. Manchmal bringt jemand das Kunststück zuwege, dieser Stilisierung zu entkommen (Elias Schneitter, Ein gutes Pferd zieht noch einmal, Kyrene Verlag, Innsbruck-Wien 2019, 115 S.). Der Autor erzählt die Lebensgeschichte seines Vaters, die den größeren Teil des 20. Jahrhunderts umfasst, so trocken, äußerst knapp und zugleich mitfühlend, dass man sich geradezu wundert, wie sehr einen diese Zeitreise bewegt, wie sehr einen die Geschichten vom Hausbau, finanziellen Nöten, beruflichen Turbulenzen, von Krankheiten und einer nie einfachen Ehe mitnehmen. Aus ebendiesem Ort stammt mein Vater, und Schneitters und meine Großeltern waren praktisch Nachbarn. So hatte ich die außergewöhnliche Wahrnehmung, wie etwas, das man als einigermaßen bekannt vorausgesetzt hat, einem plötzlich, wie unerwartet von einer anderen Seite, in anderer Beleuchtung nahetritt – fast allzu nahe.
Ein Welterfolg von vor etwa zwanzig Jahren ist mir jetzt erst begegnet (Barbara Kingsolver, Die Giftholzbibel, Roman, übersetzt von Anne Ruth Frank-Strauss, Piper Taschenbuch 2012, 592 S.) und sei hier in aller Kürze belobigt. Die Familie eines Baptistenpredigers aus den amerikanischen Südstaaten reist im Jahr 1960 in den Kongo, wo – in dem weltenfernen Flecken Kilanga – das Wort Gottes den Bewohnern nähergebracht werden soll. Schon die Begrüßungszeremonie geht so ziemlich in die Hosen; die dortigen Frauen laufen traditionellerweise mit nacktem Oberkörper herum und werden zu ihrer Überraschung von dem neu eingetroffenen Verteter Gottes auf Erden mit einer Strafpredigt der Sonderklasse bedacht. Zwar verstehen sie davon kein Wort, merken aber durchaus, dass die Stimmung nicht unbedingt sonnig ist. Ein eindrucksvolles Epos des Scheiterns auf allen nur denkbaren Ebenen, und dazu ein kaum bekanntes Kapitel Zeitgeschichte und Kulturgeografie. Es müssen nicht immer Neuerscheinungen sein!
Walter Klier
https://www.wienerzeitung.at/meinung/blogs/litblog/2055728-Geschichten-vom-Lande.html
Da haben wir nun unversehens einen neuen Klassiker bekommen. Das sind immer ganz rätselhafte Prozesse. Zunächst war der 1855 geborene Eduard von Keyserling ein schlimmer Sohn aus adeligem deutsch-baltischem Haus, der sich in seinen späteren Jahren, etwa ab der Jahrhundertwende, in der münchner Bohème und in der deutschen Literatur gleichermaßen etablierte und zu seinem Tode 1918 eine Reihe schöner Nachrufe bekam, nicht zuletzt von Thomas Mann. Der attestiert ihm Verwandtschaft mit drei Großen: Fontane, Turgenjew und dem heute weniger bekannten Dänen Hermann Bang. Was sie verbinde, sei "die tiefe Sympathie mit dem Leide, mit dem, was hoffnungslos vornehm, dem Glücke fremd, dem Tode verpflichtet ist … Dass ihnen, obgleich sie sozusagen Gesellschaftsschilderer waren, völlig die soziale Attitüde fehlt, dass sie durchaus auf das Menschliche und Poetische gerichtet sind, ihre Kritik dem Leben, nie der Gesellschaft gilt, hängt damit zusammen." Freilich war Thomas Mann selber durchaus ein Gesellschafttsschilderer, dem das, was damals auch schon als "Gesellschaftskritik" durch die Literatur geisterte, wesensfremd war. Denn dass ein Schriftsteller das Milieu der eigenen Herkunft zum Gegenstand seines Schreibens macht und dort nicht nur Licht-, sondern auch Schattenseiten findet, macht ihn noch nicht notwendig zum Gesellschaftskritiker.
Jedenfalls rutschte der Graf Keyserling, wohl auch wegen seiner Herkunft und seiner thematischen Beschränkung auf das Leben adeliger Kreise in der Folge ziemlich an den Rand der literarischen Wahrnehmung. Ganz vergessen war er allerdings nie. Immer wieder gab es den einen oder anderen Fan, der seine Begeisterung auch öffentlich machte, und wenn man sucht, findet man überraschend vollmundiges Lob wie "ein bisher wenig beachtetes Meisterwerk". So die von Viktor Zmegac ab 1979 herausgegebene "Geschichte der deutschen Literatur" über den Roman "Wellen".
Einen bedeutsamen Punkt in Keyserlings Klassikerwerdung markiert jetzt die Gesamtausgabe, die sich sinnig "Schwabinger Ausgabe" nennt. Nach den "Gesammelten Erzählungen" vom Vorjahr folgen nun unter dem Titel "Feiertagskinder" die "späten Romane", wobei sich der Dichter selber ebensowenig wie seine ersten Verleger vor gut hundert Jahren entscheiden konnte, ob er nun kurze Romane oder lange Erzählungen schrieb (Eduard von Keyserling, Feiertagskinder. Späte Romane. Hrsg. und kommentiert von Horst Lauinger, Nachwort von Daniela Strigl. Manesse Verlag, München 2019, 716 S.).
So lesen wir eben, ohne zu wissen, in welcher literarischen Gattung wir uns aufhalten; es spielt auch keine Rolle. Auf immer gleiche, unverwechselbare und immer von neuem frappierende Weise zieht es uns in diese Geschichten hinein, und darin geht zwar nicht alles immer schief, aber vieles; doch so selbstgewiss und borniert kann gar keine dieser Figuren sein, dass sie uns nicht am Ende leidtäte, wenn es ihr schlecht ergeht.
In "Wellen", auch wegen der Verfilmung durch Vivian Naefe von 2005 Keyserlings bekanntestem Roman, sagt die resolute Generalin von Palikow: "Sie sehen unsere Mädchen an, wie man Käfer ansieht, die man sammelt…" Sie schilt da den Geheimrat Knospelius, einen dieser leicht maskierten Doppelgänger unseres Autors, der als Außenseiter in der Handlung herumsteigt und seine "Käfer" betrachtet und seine Wahrnehmungen dann und wann zu "Aussprüchen unangenehmer Lebensweisheit" bündelt, wie sich eine andere Figur ausdrückt.
Eine recht spezielle Art von Witzen ist es, die Keyserling seinen Figuren in den Mund legt. "Sehen Sie, Doktor, wenn man so bedenkt, wer alles stirbt, so kann man den Respekt vor dem Tode verlieren." Und er macht sie auch selber. "'… meine Damen und Herren, nach so viel Wehmut wollen wir uns das Herz mit einem patriotischen Liede stärken', und er stimmte an: 'Deutschland, Deutschland über alles.' Kräftig fiel der Chor ein, und das Lied erklang so laut über die Wiese, dass drüben im Schlosse die Hunde zu bellen begannen." Der Roman "Fürstinnen", in dem sich diese Stelle findet, erschien im Jahr 1916, als man ganz allgemein keine Witze mehr über Deutschland machte.
Späte Blüten eines Klassikers, EXTRA der Wiener Zeitung, 28. 12. 2019
https://www.wienerzeitung.at/meinung/blogs/litblog/2044146-Spaete-Blueten-eines-Klassikers.html
Vor kurzem habe ich einen Klassenkameraden aus der Volksschule neu kennengelernt. Einzig an seinen Vornamen konnte ich mich vage erinnern, doch im Gespräch tauchten sofort der damalige Lehrer und verschiedene andere Schüler aus der Klasse auf und auch die besonderen Umstände – wir besuchten etwas, das "Übungsschule" hieß und im selben Gebäude wie die "Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt" untergebracht war. Die Auszubildenden hießen "Kandidaten" und übten an uns, wie es sein würde, Volkschullehrer zu sein. Ähnlich ging es mir mit einem jüngst erschienenen autobiografischen Buch (Friedrich Hahn, Der Autor steht für Lesungen und Pressetermine nicht zur Verfügung. Eine Nahaufhörerfahrung, Bibliothek der Provinz, Weitra, o.J., 318 S.), in dem es um eine österreichische Schriftstellerkarriere geht. Ich kannte so ziemlich alle und alles, was darin vorkam, nur der Ich-Erzähler trat praktisch neu in mein Leben und vervollständigte so die Geschichte von den 1970er Jahren bis auf den heutigen Tag. Parallel zu Gerhard Henschels "Erfolgsroman" ist dies ein absoluter Misserfolgsroman. Das hat auch was, ein patschertes Schriftstellerleben bis ins kleinste Detail nacherzählt, zumindest Insider des Betriebs dürften ihr Vergnügen daran haben. Die übrigen müssen das Wagnis einfach eingehen.
Noch ein Buch in der Ich-Form. Der an dieser Stelle einmal vorgestellte, 1942 geborene Amerikaner Steven Bloom schlüpft hier in die Haut eines zwei Generationen älteren Geschichteprofessors (Steven Bloom, Mendel Kabakov und das Jahr des Affen, übers. von Silvia Morawetz, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 199 S.). Auch Mendel Kabakov breitet eine Art déformation professionelle vor uns aus: weite Strecken des Buches, das vom traurigen ersten Witwerjahr des Erzählers, dem notorischen Jahr 1968, und einem ausgesprochen turbulenten Familienleben handelt, füllen Mendels Erinnerungen an dieses. Überwölbt wird alles aber von seinem Historikerwissen, das ihn nicht aufhört zu plagen. Wir lesen von der Unzahl der unerfreulicher Episoden aus der amerikanischen Geschichte, von nichts als Mord, Vertreibung, Unterdrückung und der Verlogenheit der jeweils zuständigen politischen Führer, als kleines Handbuch des Antiamerikanismus durchaus zu empfehlen. Mich hat es bei der Lektüre etwas zu sehr an hiesige einschlägige Zeitgenossen erinnert, die einen abendfüllend und aus dem Stegreif über die schlimmen Seiten der Amerikaner, Israelis, nicht zu vergessen die Engländer!, unterrichten und an Rudolf Burgers beinah verzweifelte Frage "Wozu Geschichte?" denken lassen.
Und noch ein Ich-Erzähler, ein viel älterer. Der hat es, geboren im besten 18. Jahrhundert, bei guter Gesundheit bis in unsere Tage geschafft (Gabriele Weingartner, Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe, Roman. Limbus Verlag, Innsbruck/Wien, 2019, 358 S.). Irgendwann ist er draufgekommen, dass er zum Unterschied vom Rest der Menschheit nicht sterben kann – ein altes Erzählmotiv, das die Autorin mit sichtlichem Vergnügen aktualisiert. Er hat in seinem langen und abwechslungsreichen Leben die erstaunlichsten Bekanntschaften gemacht, in der Regel hat er erst viel später kapiert, wem er da über den Weg lief zwischen Mozart und Somerset Maugham; ein Zwischenspiel im notorischen moskauer Hotel Lux, der Absteige berühmter Emigranten aus dem Westen und oft die letzte Station auf ihrem Lebensweg, etwas, um das man ihn weniger beneidet. Nach all der Zeit spürt er den Wunsch in sich wachsen, dieses Leben zu beenden; es soll zeitgemäß geschehen, im Rahmen eines Besuchs in der Schweiz bei einer dieser auf solche Probleme spezialisierten Institutionen …
Damit wir im Genre bleiben, befindet sich unter den fünf Geschichten einer immer noch berühmten Nobelpreisträgerin (Doris Lessing, Worum es wirklich geht. Stories, übers. von Barbara Christ u.a., Ebersbach & Simon, Berlin 2019, 192 S.) immerhin auch eine Geschichte mit Ich-Erzählerin. Vor vielen, vielen Jahren, genauer gesagt 1977, las ich Lessings berühmtesten Roman, "Das goldene Notizbuch": er gehört zu denen, die deshalb in meinem Regal bleiben dürfen, weil ich ihn noch einmal lesen möchte. Für Lessing-Anfänger ist dieser kleine Band als Appetithäppchen durchaus zu empfehlen.
Wiener Zeitung, EXTRA, 12. 11. 2019
www.wienerzeitung.at/meinung/blogs/litblog/2037005-Lauter-Ich-Erzaehler.html
Ein seltener Vogel – ein Roman aus der Deutschen Demokratischen Republik, der rundheraus lustig ist, respektlos, unterhaltsam, glänzend geschrieben, ja gibt's denn das? Zumindest ein Exemplar davon gab es bis vor kurzem im Archiv des bekannten Autors Günter Kunert, der heuer seinen 90. Geburtstag feierte. Er hatte das Buch Mitte der siebziger Jahre geschrieben, selber nach Fertigstellung aber als "absolut undruckbar" klassifiziert, allsogleich irgendwo in seinen Schubladen vergraben und schließlich ganz und gar vergessen, zumal er bald darauf die Möglichkeit wahrnahm, in den Westen auszureisen. Als würdiges Geburtstagsgeschenk an sich und die lesende Welt zugleich ist das Büchlein nun erschienen und existiert hinfort in vielen, man hofft: sehr vielen Exemplaren (Günter Kunert, Die zweite Frau. Roman, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 200 S.). Nachdem ich mich kürzlich in diesem Blatt über Schriftsteller mokiert habe, die Träume in ihre Bücher einbauen, muss hier wieder einmal das Diktum von Marcel Reich-Ranicki herhalten: "In der Literatur kann man alles, wenn man es kann." Der vorliegende Roman fängt nämlich gleich mit einem Traum an, worin der Held zu seinem erheblichen Missbehagen mit Walter Ulbricht zusammentrifft. Ein Gefühl von "Verlegenheit und Peinlichkeit" erfüllt ihn ganz, und "er stand immer noch mit der Hand des Staatsratsvorsitzenden in seiner eigenen da und überlegte, wie er seine Finger rasch und unauffällig zurückziehen und zurgleich den Eindruck hervorrufen könne, diese Begrüßung sei ein Zufall, besser: ein Irrtum." Weiter geht es in der Geschichte mit nichts als Zufällen, dummen Zufällen und dummen Irrtümern sonder Zahl, von denen hier gar nichts weiter verraten werden soll – lesen Sie selbst!
Ein in jeder Hinsicht anderes Kaliber ist der zweite Roman, von dem hier die Rede sein soll, und der so wie der erste aus Berlin stammt. Bruno E. Werner war ein erfolgreicher Journalist in der Weimarer Republik und, bei stark abnehmendem Erfolg, auch noch in der Nazizeit. Am Ende versteckte er sich auf dem Land in Bayern, um Freiheit und Leben über den absehbaren Zusammenbruch des schrecklichen Regimes noch hinüberzuretten. 1949 erschien dann der Roman, in dem all dies, in leicht literarisierter Form, erzählt wird (Bruno E. Werner, Die Galeere. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 576 S.). Es ist ein Roman des sich Durchwurstelns, Durchschwindelns, während gerade die Welt untergeht. Zuerst meinen ja die guten Bürger und die ihnen zugehörigen Intellektuellen, dass man schon so irgendwie über die Runden kommen, dass das ganze nicht so schlimm werden wird und überhaupt die Nazis "sich nicht lange werden halten können".
Hier wird erzählt, wie sehr man sich täuschen kann. Zu dem steht die Frage im Raum und ist nicht beantwortbar: Wie wäre eine Revolte zu bewerkstelligen (gewesen)? Es ist ein Roman des Mitmachens. Wie soll es denn anders gehen auf der Welt, als dass man wohl oder übel mittut? Gleich 1933 erklärt der neue "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda" einer Versammlung von Schriftstellern und Journalisten: "Sie wundern sich, meine Herren, dass wir uns in unseren Reden und unserer Propaganda immer nur an den einfachen, primitiven Mann von der Straße und nicht an Sie gewendet haben. Aber wir haben uns gesagt: mit dem Mann von der Straße kommen wir an die Macht, und wenn wir die Macht erst haben – dann kommen die Intellektuellen ganz von selbst." So war es und so ist es.
Andere Länder, andere Zeiten. Wieder einmal verdanke ich der Ö1-Literaturleiste um 11 Uhr vormittags einen Tip: Die 1986 in Algier geborene und jetzt in Paris lebende Autorin Kaouther Adimi beschreibt in ihrem ersten ins Deutsche übersetzten, kurzen und sehr schönen Roman (Steine in meiner Hand, übers. von Regina Keil-Sagawe, Lenos Verlag, Basel 2017, 180 S.), wie es ist, wenn man von daheim weggeht, in die große Stadt. Dort wird man nicht heimisch, die Heimat bleibt einem und wird einem zugleich fremd, und eigentlich wäre es doch ganz nett, einen Mann zu finden und Kinder zu kriegen. Höchste Zeit, meint nicht nur die anstrengend fürsorglichee Mutter der Erzählerin, sondern auch Ihr treuer Chronist.
Wiener Zeitung, EXTRA, 31. 8. 2019
Aus manchen Büchern fällt es schrecklich schwer zu zitieren: ein Zitat soll schließlich als Teil für das Ganze veranschaulichen helfen, wie so ein Buch gestrickt ist, damit die Leute sich ein Bild davon machen können. Andere schlägt man einfach irgendwo auf, und schon springt einen etwas an. "Aber im Übrigen war auch Luther ein rechtes Arschloch, ein roher Heide, Barbar und Opportunist, was Herr Egon [d.i. Friedell] elegant mit 'vulkanischer Natur' und einen 'Menschen ohne Herbst' umschrieb, der sich 'in einigen gewaltigen Eruptionen aufgebraucht hatte.'" Als ich die Stelle, nun beim Wiederdurchblättern, las, musste ich lachen, nun, wo ich sie abgetippt habe, denke ich mir, das kann man eigentlich so auch nicht sagen, womöglich sind die Protestanten beleidigt (ungestraft beleidigen darf man heutzutage ja nur Katholiken), aber jedenfalls sei hier ein Buch angezeigt, das von der Literaturgeschichte handelt. Selten dürfte es einem Autor gelungen sein, die eigene, hochspezielle Sicht auf dieses Wissensgebiet so vergnüglich und kratzbürstig zugleich, gewissermaßen in einen hochkomischen Familienroman (mit vielen verschiedenen Familien) verwandelt darzubieten (Egyd Gstättner, Die Familie des Teufels. Allein gegen die Literaturgeschichte. Picus Verlag, Wien 2018, 392 S.).
Ein Meister der englischen Hochkomik, von dem ich mir nicht recht vorstellen kann, wie man ihn a) übersetzt (so, dass es immer noch lustig ist) und b) auch noch an Deutschsprachige verkauft, erscheint seit längerer Zeit in dieser Zielsprache, und das bei renommierten Verlagen. Das kann nur bedeuten, dass sowohl a) als auch b) zutreffen. So habe ich nun, um die Probe aufs Exempel zu machen, sein "neuestes" d.h. im Original 1934 erschienenes Werklein zur Rezension bestellt – und bin mir immer noch nicht sicher. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man diese unnachgiebige Art des Lustigseins, ein Radikal-Blödeln auf hohem intellektuellem Niveau, das sich jede Art von Intellektuellsein aufs strengste verbietet, überhaupt auf längere Sicht aushalten kann. Aber sehen sie selbst: "Ich weiß nicht, ob es dem Leser auch schon so ergangen ist, doch stehe ich je wie der Ochs vorm Berg, so sehe ich nach durchschlafener Nacht die Lösung oft klarer vor mir. … Die feinen Pinkel, die solche Themen erforschen, machen meines Wissens geltend, das Ganze hänge irgendwie mit dem Unbewussten zusammen, und damit liegen sie vielleicht gar nicht so falsch. Ich würde zwar nicht unbedingt behaupten, dass ich ein Unbewusstes besitze, doch vermutlich tue ich dies, ganz ohne es zu wissen." (P. G. Wodehouse, Auf geht’s, Jeeves! Roman. Übers. von Thomas Schlachter, Insel Taschenbuch, Berlin 2019, 364 S.)
Vor etlichen Jahrzehnten wurde auf Ibiza ein Schriftsteller geboren, der demgemäß mittlerweile ein ziemlich reifes Alter erreicht hat. Nun blickt er auf eine Episode aus seinem Leben zurück und hat sie in einen Roman verpackt, der auf eine sehr zurückhaltende Art und Weise eine kleine literarische Sensation darstellt (Vicente Valero, Übergänge, Roman. Übersetzt von Peter Kultzen, Berenberg Verlag, Berlin 2019, 87 S.). Hier schaut einer auf die Kindheit, sozusagen in zwei Etappen. Erzählt wird von dem seinerseits schon zwei Jahrzehnte zurückliegenden Begräbnis Ignacios, eines Freundes aus Kinderzeiten, als die überlebenden drei aus der ursprünglichen Viererbande, sich gemeinschaftlich einen argen Rausch ansaufend, jener Zeit gedenken, vor allem der denkwürdigen Tage im Spätherbst 1975, als die Zwölfjährigen, die immer nachmittags zusammenkamen, um im Arbeitszimmer von Ignacios verstorbenem Vater zu spielen, dort die gut versteckten Pornohefte des Verblichenen entdecken, die sie zerschnipseln und die einzelnen Blätter an ihre Mitschüler verscherbeln, ein lukratives Handelsgeschäft, das, wie zu erwarten, nach vierzehn Tagen auffliegt. Die vier werden vor den Schuldirektor zitiert, verhört, geohrfeigt, beschimpft, nach Stunden schleichen sie nachhause, voll Furcht und Schrecken, was ihnen am nächsten Tag alles blühen wird – doch in der Früh kommt die Nachricht, während der Nacht sei Franco gestorben und nun jedenfalls und abgesehen von allem anderen auf drei Tage kein Schulunterricht … Ein zauberhaftes kleines Buch über ein mir fernes Ferienparadies im Wandel der Zeiten und jenes auch mir mittlerweile fernes Lebensalter.
Wiener Zeitung, EXTRA, 13./14. 7. 2019
https://www.wienerzeitung.at/meinung/blogs/litblog/2018106-Was-alles-lustig-sein-kann.html
Bei einem Text von Bora Cosic weiß man nie, was er gerade im Moment dazuerfunden hat, weil es eben passte, und wo er sich mehr an das Gegebene, das Vorgefundene hält. Das macht aber nichts, denn was immer ihm da gerade auf- und einfällt, man folgt ihm gerne, so wie hier, wo wir zwei Reise-Plaudereien vorgesetzt bekommen, die ursprünglich getrennt voneinander in der Zeitschrift "Lettre international" erschienen sind. Zusammen ergeben sie knapp ein schmales Buch. So nimmt uns Cosic in seiner bewährten, bei aller Abschweifung stets unterhaltsamen Art mit nach Rom; dort begegnet ihm neben dem, was einem in Rom zwangsläufig begegnet, außerdem und ausgerechnet ein serbischer Schriftsteller namens Milos Crnjanski. Das ist ein serbischer moderner Klassiker, von dem, wie es das Schicksal der kleinen Sprachen bzw. Literaturen ist, außerhalb seiner Heimat noch niemand gehört hat. Und – auch das ist ein netter Zug von ihm – Cosic gibt sich große Mühe, diesem Missstand abzuhelfen. Und so erfahren wir, dass einst Ende der 1930er Jahre dieser unbekannte Dichter in Rom lebte, er vertrat als Diplomat sein Land Jugoslawien, das nach kurzem Dasein sich eben anschickte, von der Landkarte wieder zu verschwinden. Währenddessen schrieb er ein Buch, das von Michelangelo handeln sollte, aber schließlich mehr davon handelte, dass er ein Buch schrieb zu einer Zeit, als die Geschichte im Begriff war, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen … "Viel Zeit ist seither vergangen, seit meiner Verbannung in Rom, der kurzen, aber angenehmen, in voller Geborgenheit, einer solchen, dass ich während des gewaltigen Blutvergießens in meinem Land ungestraft das große und wichtige Buch des serbischen Dichters Milos Crnjanski lesen konnte", schreibt Cosic zwanzig Jahre nach dem zweiten Ende Jugoslawiens, das sich auf diese Weise sozusagen im ersten Ende spiegelt, was dem unverdrossenen Modernisten natürlich gefällt. Und dann ist der erste Teil vorbei und wir schauen sozusagen ein Haus weiter. "Donaubädeker" heißt der zweite Teil, beginnt in Linz und endet in Wien, und dazwischen werden wir in die Weinberge des westlichen Niederösterreich entführt und müssen en passant eine ziemliche Menge bildungshuberisches name dropping verdauen, das einen ja leicht nervt (oder wenigstens mich), wenn nämlich ein Auswärtiger vor mir die Fülle seiner Assoziationen zum Hiesigen ausbreitet, was doch leicht anbiedernd wirkt, auch wenn es gar nicht so gemeint ist. Dafür versöhnt uns unser Autor immer wieder mit einer seiner kleinen Prosa-Vignetten: "Ich weiß, dass mir vor langer Zeit, als ich hier war, ein Emblem auffiel, das ich mir in der Kindheit eingeprägt hatte. Als Sohn eines Eisenwarenhändlers behielt ich das Markenzeichen einer Firma aus Solingen im Auge: zwei Gestalten, in einer Zeichnung seltsam zusammengewachsen. Das war wie eine Art Turnszene, in der jeder der beiden Zusammengewachsenen mit Hanteln trainiert und der Welt beweist, dass gerade da (vor 275 Jahren) das Metallreich Europas geboren wurde."
Bora Cosic, Immer sind wir überall. Reisen in Italien und Österreich. Übersetzt von Katharina Wolf-Grießhaber. Folio Verlag, Wien-Bozen 2019, 125 S.
Wiener Zeitung/Extra, 6. 4. 2019
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2003178-Streifzuege-des-Europaeers-Bora-osi.html
Was für ein trübsinniges, trübseliges, trübes Buch! Und das von einem, der nicht nur mir, sondern einer ganzen Schar einstmals junger, aufstrebender Intellektueller Vorbild war und der auch nicht anstand, diesem "mächtigen Häuflein" (wie sich Rimski-Korsakow, Mussorgski und Co einst nannten), mit Rat und Tat unter die Arme zu greifen. Er zeigte uns einen Weg ins Freie aus dem links-getönten, stets dogmatisch angehauchten bundesdeutschen Kulturpessimismus, mit dem wir aufgewachsen waren, und bedeutend war damals nicht nur Michael Rutschky und was er schrieb, sondern das vollständige Ehepaar, also er UND Katharina Rutschky und das, was sie schrieb, und wie sie uns erschienen: nämlich als beeindruckendes, durchschlagskräftiges Zweierteam und als unerschöpfliche, charmante Gastgeber, wenn wir nach Berlin kamen und dort in der Wartenburgstraße unsere Aufwartung machten (einmal im Jahr, zur Zeit der Berlinale) und bekocht wurden und aufs strengste ausgefragt (wir nannten das unter uns "die Matura", die wir demgemäß etliche Jahre lang einmal jährlich neu abzulegen hatten), und am Ende hatten alle Beteiligten doch etwas zu viel über den Durst getrunken … Als wir dann selber älter wurden und vor allem, spät aber doch, noch eine richtige Familie gründeten, hätte Frau Katharina uns samt unseren Kindern noch gerne besucht, aber dazu kam es nicht mehr, sie war an Krebs erkrankt und starb daran 2010. Ungefähr bis dahin reicht Michael Rutschkys dritter und letzter, nun posthum erschienener Tagebuchband, und das scheint immerhin darauf hinzudeuten, dass er die letzten neun Jahre seines Lebens als vergleichsweise unerheblichen Appendix betrachtet haben muss, zu dem weiter nichts mehr zu sagen war. Die 13 Jahre vorher, die der vorliegende Band umfasst, fallen – geht man nach diesem Text – ebenfalls und hauptsächlich durch Unerheblichkeit auf, und man findet in diesem Sammelsurium von Alterswehwehchen kaum einen Hinweis darauf, dass sozusagen gleich nebenan der lebenslange Freund der beiden, Kurt Scheel, zusammen mit Karlheinz Bohrer den "Merkur" redigierte, eines der wichtigen Medien eines nicht-linken Philosophierens und Literarisierens, als nach 1989 einige Positionen in Deutschland neu zu verhandeln waren. Und man würde, wüsste man es nicht, nach diesem Tagebuch auch nicht glauben, dass zu eben jener Zeit Katharina Rutschky buchstäblich im essayistischen Einzelkampf die damals massenhafte Denunziation angeblichen Kindesmissbrauchs bekämpfte, intellekktuell eindrucksvoll und menschlich bewundernswürdig, und sich damit hauptsächlich Feinde und kaum Freunde machte.
Stattdessen bekommen wir eine Unmenge von Träumen zu lesen: es ist naturgemäß jedem Tagebuchschreiber unbenommen, seine Träume aufzuschreiben, doch bin ich vollkommen überzeugt, nicht der einzige Leser zu sein, der aufgeschriebene Träume habituell überblättert. Und im übrigen bekommen wir ein Leben präsentiert, das merkwürdig ereignislos, ja leblos daherkommt, wo die einzige Leidenschaft, die sich einigermaßen bemerkbar macht, der Neid ist, Neid auf alle, die aus irgendwelchen Gründen mehr Beachtung finden als Meister R. (er nennt sich im Tagebuch, auch das eine komisch verdrückte Pose, immer "R.", und erscheint so in der dritten Person), Dauerbeleidigtheit eines Zukurzgekommenen, alle anderen kriegen das Geld, die Preise, die lukrativen Stipendien. Selbst Frau Katharina wird belauert und hämisch kommentiert, wenn ihr das Schreiben schwerfällt und sie deswegen zuviel trinkt. Es ist alles so unerfreulich, dass man sich gerade als, gewissermaßen, Freund der Familie, geniert, weiterzulesen, und so nebenbei, in jenem Gesamt-Bilanzierungs-Nebenkämmerchen des literarischen Bewusstseins, drauf und dran ist, Herrn R. aus der Liste derer zu streichen, in deren Bücher man, später, wenn man einmal Zeit haben sollte (und noch bei Verstande wäre), noch einmal hineinzuschauen. Alles sehr traurig und irgendwie unbegreiflich.
Michael Rutschky, Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996–2009. Zusammengestellt von Michael Rutschky und Kurt Scheel, mit einem Nachwort von Jörg Lau. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 358 S.
Wiener Zeitung/Extra, 15. 6. 2019
In keiner Musiksendung, in der Antonin Dvorak vorkommt, wird versäumt darauf hinzuweisen, wie wenig zutreffend der Titel seiner 9. Sinfonie sei: alles böhmisch, in Wirklichkeit, aber freilich, geschrieben hat er sie "drüben". So ist es auch in der Literatur. Amerika bleibt für die Schriftsteller der Alten Welt etwas Entrücktes, Phantasmatisches, egal wie authentisch sie ihre Erlebnisse zu Geschichten formen. Wie sollte es auch anders sein? Niemand schüttelt seine Herkunft leicht ab, zumal wenn er schreibt – aber genug des essayistischen Schweifens. Eines der in seiner konzisen, ja geradezu barschen Diesseitigkeit völlig undeutschen und absolut unvergesslichen Bücher ist für mich seit langem Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus". Nun kann man seine ebenbürtige, also gleichfalls umwerfende Autobiografie lesen (Johann Gottfried Seume, Mein Leben. Erstmals ungekürzt hrsg. von Dirk Sangmeister. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 479 S.). Seit seinem Entstehen vor gut 200 Jahren ist dieses Buch stets von neuem aufgelegt worden, doch hat es bis heute gedauert, dass sich jemand die Mühe machte, eine sorgfältige Edition auf der Grundlage des Manuskriptes zu erstellen.
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2001621-Aus-der-Neuen-Welt.html
Es war das Jahr 2001. Die Menschheit und auch wir zwei hatten den Sprung ins neue Jahrtausend geschafft, ohne daß alle Computer und Netzwerke und was sonst zusammengebrochen wären, und wir hatten keine eigene Zeitung mehr und noch keine Kinder und deshalb offenbar nicht genug zu tun. So stellten wir eine Frage an den damaligen Chefredakteur der »Tiroler Tageszeitung« und bekamen eine günstige Antwort. Einige Zeit später, nämlich im Jänner 2002, begannen wir also eine wöchentliche Glosse für diese Zeitung zu schreiben, und zwar immer abwechselnd, so daß jeder alle vierzehn Tage dran war. Entgegen unseren eigenen Erwartungen und vielleicht auch denen der Redaktion schrieben wir diese Glosse achtzehn Jahre lang. Sie hieß anfangs so wie nun dieses Büchlein, später nicht mehr, erschien im Lauf der Zeit an verschiedenen Wochentagen, war immer wieder verschieden lang, und eine zeitlang wurden wir auf halbe Frequenz gesetzt, weil der damals neue Chef uns offenbar nicht besonders leiden konnte. Er warf uns dann auch kurz entschlossen hinaus, wurde allerdings wenige Monate später selber hinausgeworfen. Seine Nachfolger stellten uns wieder ein, mit der ursprünglichen wöchentlichen Frequenz, aber mit halbiertem Honorar, das in einer Zeit, in der allgemein Redaktionen reduziert und freie Mitarbeiter abgebaut wurden (wegen der Digitalisierung), noch immer passabel war. Gegen Ende 2019, als wir um einen Termin gebeten hatten, um ein paar Kleinigkeiten zu besprechen, nützten unsere Chefs, überraschend oder auch nicht, die Gelegenheit und kündigten uns aufs Jahresende. Die Zeitungen hätten es immer schwieriger und müßten sparen (wegen der Digitalisierung), vor allem die fest angestellten Redakteure würden immer teurer, geradezu unerschwinglich, und deshalb mußten die Freien nunmehr leider eingespart werden. Insgesamt haben wir auf diese Weise einige hundert Kommentare zum Zeitgeschehen, zum Zeitgeist oder auch nur zu kuriosen Vorkommnissen in unserer eigenen kleinen Lebenswelt geschrieben. Aus der Menge hier ausgewählt sind es 309, und wie wir glauben, ergeben sie insgesamt eine heiter-besinnliche Chronik jener Jahre, die, so will es nun kurze Zeit später scheinen, vielleicht die besten waren, nach denen nichts extra Rares mehr nachkommt. Innsbruck, im Sommer 2023
Stefanie Holzer und Walter Klier
Erschienen im Dezember 2023 im Verlag Uwe Laugwitz, Buchholz in der Nordheide, ISBN 9-783-933077-71-4, € 18,- zuzügl. Versand, zu beziehen über Booklooker
In der fernen Zeit, die wir "vor den Kindern" nennen, fuhren wir gewöhnlich für drei oder vier Wochen im Jahr weg, manchmal nach Frankreich, öfter auf die britischen Inseln, kaum woandershin. Als wir dann die Kinder hatten, fuhren wir zuerst einmal nirgendwohin. Später ermutigte uns ein befreundetes Ehepaar, mit ihnen nach Italien ans Meer zu fahren, mit dem Zelt. Wir hatten unsere drei Zwerge im Gepäck, sie zwei weitere, nämlich ihre erste Enkelin mit einer Freundin, die ungefähr im selben Alter waren wie unsere. Das Abenteuer dauerte eine Woche und war so erfolgreich, dass wir es im Jahr darauf ohne fremde Hilfe neuerlich wagten und danach noch einige Jahre lang. Schließlich hatten auch wir, die wir vorher kaum je in einem Zelt übernachtet hatten, nun für unser Leben ausreichend gezeltelt, und brachen zu neuen Ufern auf. Zweimal ging es nach England, einmal in den Süden, einmal in den Norden, einmal mit dem Auto, das andere Mal mit dem Flugzeug. Beide Male mieteten wir ein Haus in einem kleinen Ort am Meer. In Swanage (Süden) war das Meer kühl, in Staithes (Norden) war es saukalt. Dass zur selben Zeit angeblich eine Hitzewelle herrschte, selbst in England!, merkte man nicht wirklich.
Dann brach das Jahr 2019 an, das letzte jener Jahre, die wir heute die gute alte Zeit nennen, recht treffend, wie ich meine, damals also war es, da man noch hinfahren konnte, wohin man wollte und wann. So wie in den zwei Jahren vorher, fingen wir nach den Weihnachtsferien allmählich an zu überlegen, wohin wir es im kommenden Sommer gehen würde. Die Kinder erzwingen ganz von selber ein höheres Maß an Planung, als wir es in den sorglosen Zeiten der Zweisamkeit gehabt hatten; da waren wir mehr oder weniger einfach ins Auto gestiegen und losgefahren. Das höhere Maß an Planung fand, dem aktuellen Stand der Technologie folgend, im Internet statt, wo man sich abendelang durch Seiten mit Feriendomizilen aller Art klicken konnte, auch musste, und der altmodische Ausdruck "die Qual der Wahl" sich mit zeitgenössischem Inhalt füllte.
Und, wie meine liebe Gattin anmerkte, es sollte irgendwie etwas besonderes sein, um das gewisse Bisschen besonderer, als es bisher ohnehin gewesen war. Schließlich wäre es womöglich das letzte Mal, da wir alle fünfe zusammen etwas in dieser Art unternehmen würden. Die Kinder waren demnächst vierzehn und fünfzehn, bald würden sie sechzehn, gar siebzehn Jahre alt sein, da hörte man so allerlei darüber, wie in diesem Alter die langgewohnte, gemeinsam mit den Eltern unternommene Ferienreise recht abrupt aus der Mode zu kommen drohte.
Nach zwei Mal England wäre jedenfalls einmal Frankreich dran, und da wohl eine Gegend am Meer. Früher hatten wir einmal ein paar Tage in der Bretagne verbracht, das war schön gewesen und mittlerweile zwanzig Jahre her. Warum nicht einmal wieder, jetzt mit den Kindern? Also wurde erneut im Internet gestöbert und, weil ich ein altmodischer Mensch bin, der entsprechende Michelin-Führer angeschafft. Angesichts von Myriaden von Ferienhäusern, die alle gleich ausschauten, sozusagen alle aus der gleichen Fabrik, kam vorderhand keine richtige Begeisterung auf. Und waren nicht Frankreichs Strände im Sommer immer überfüllt? Und welche Sorte Strand wäre für unsere diffus nach unterhaltsamer Abwechslung süchtigen Halbwüchsigen wohl die richtige?
Dann kam Stefanie von einem geselligen Abend nachhause und sagte, bevor sie noch etwas anderes sagte: "Mieten wir uns ein Hausboot!" Zwei von den vier Damen, mit denen sie gerade zusammengesessen war, hatten das mit ihrer Familie ausprobiert, und beschrieben es als als sehr lohnend. Gar nicht langweilig, im Gegenteil. Die Männer seien beschäftigt. Die Damen hätten frei. Also überlegten wir drei Tage lang, und dann beschlossen wir: wir würden ein Hausboot mieten. Beide konnten wir uns nicht viel darunter vorstellen, abgesehen von dem einen übermächtigen Gedanken, der vor allem eine Befürchtung war, vielmehr das, was man landläufig als "mulmiges Gefühl" bezeichnet: Ja, können wir denn das? Es wurde uns sowohl von den Bekannten als auch von den Werbemitteln, die wir uns ins Haus kommen ließen, glaubhaft versichert, dass da "nichts dabei sei". Man benötigte auch kein Kapitänspatent oder ähnliches, außer man wollte sich in die Nähe der großen Städte wagen, was wir ohnehin nicht vorhatten.
Es war dann, wie man rückblickend feststellen kann, tatsächlich "nichts dabei" gewesen, vielmehr, wie meine Großmutter Jolan gesagt hätte, gelungen. Und es war, was uns trotz der Ankündigung verwunderte, überhaupt nicht langweilig, im Gegenteil. Nicht nur für die Kinder, auch für uns Alte war es unterhaltsam, eine Woche lang, ohne sich viel zu bewegen oder überhaupt irgendetwas zu tun, auf einem geradezu unfassbar breiten und ruhigen französischen Fluss mit unfassbar vielen Windungen dahinzufahren und den Blick über die meist aus Büschen bestehende Ufergegend schweifen zu lassen. Das Wort „Entschleunigung“ wird heutzutage oft und gern verwendet. So entschleunigt wie nach dieser Sommerfrischwoche am Fluss waren wir uns überhaupt noch nie vorgekommen.
Der Fluss heißt Saône, ein Wort, von dem man nicht das /a/, sondern nur das /o/ spricht, und wir befuhren ihn in seinem Oberlauf. Das zugehörige Departement heißt demnach Haute-Saône. Und obwohl wir uns mitten in Mitteleuropa befanden, hatte man streckenweise das Gefühl, sich durch ein fernes, geradezu exotisch leeres Land zu bewegen. Das lag nicht nur an dem ausgesprochen altvaterischen Reisetempo – mit so einem Boot schafft man dreißig, höchstens vierzig Kilometer am Tag, es kam also insgesamt kaum mehr Strecke zusammen, als man mit dem Auto auf der Straße in gut zwei Stunden zurücklegt. Vor allem lag es an der ungewohnten Optik. Eine Woche lang glitten wir leicht schaukelnd und gemächlich zwischen den vielen, vielen Büschen und Bäumen dahin. Von Zeit zu Zeit tauchte dahinter ein Kirchturm auf, und manchmal konnte man anlegen, ins Dorf gehen und einkaufen und einen Kaffee trinken. Das Dorf hieß in diesem Fall Mantoche, und abgesehen von seiner außergewöhnlichen Schläfrigkeit (sogar die Kirche war zugesperrt) zeichnete es sich dadurch aus, dass wir in den unübersichtlichen Regalen der örtlichen Epicerie das teuerste und möglichweise auch beste spanische Olivenöl unseres Lebens fanden sowie Nudeln aus lokaler Fabrikation, die speziell gut schmecken, denn sie werden nach dem Rezept der italienischen Großmutter des Fabrikanten hergestellt, wie dieser auf der Packung schreibt. Man kann sie nur dort in der Gegend in einigen Geschäften kaufen und sonst nirgends. Denn der Fabrikant hat offenbar keine Ambitionen in Richtung Weltmarkt. Wie wir dann von daheim aus bei der Epicerie von Mantoche nochmals einige Packungen dieser Hörnchen bestellten und vor allem wie es nach Irrungen und Wirrungen gelang, diese dann doch noch ordnungsgemäß zu bezahlen, das wäre eine eigene Geschichte.
Jedenfalls war auch der Kaffee gut, den wir auf den klischeehaft wackligen französischen Stühlen vor dem Laden heraußen tranken, während die Kinder ein Eis schleckten und die lokale Kundschaft in ebenso klischeehaft rostigen und zerbeulten französischen Autos angebraust kam, ordnungswidrig parkte und im Laden die Vorräte aufstockte. So konnte man immerhin konstatieren, dass hier in der Gegend irgendwer wohnte, nachdem man sonst außer den Besatzungen anderer Boote und den Kühen, die am Ufer im Schatten der Bäume ruhten, kaum eine Seele zu Gesicht bekommen hatte. Genau genommen wirkte das alles wie eine kleine, so mehr nebenbei eingefügte Szene aus einem Film von Jacques Tati.
Meistens also hatte man Busch- und Astwerk vor Augen, dazu Seerosen, bei denen man aufpassen musste, dass sich die Schiffsschraube nicht darin verfing, Bisamratten, die sich auf dem grünen Teppich sonnten, den die Seerosen bildeten, Schwäne, Enten, Reiher, Raubvögel, Fische, eine Ringelnatter, ein Kormoran und ähnliches mehr, in bunter Folge, teils mit niedlicher Nachkommenschaft im Schlepptau, teils ohne.
Dann und wann kam ein anderes Boot entgegen, saß am Ufer ein Angler, oder ein paar Radfahrer huschten vorbei. Legte man abends am Pier einer kleinen Stadt an, und man fand sogar ein Restaurant, war das eine Sensation. Die Franzosen nennen derlei Gegenden bekanntlich "la France profonde", das tiefe Frankreich. Ich hatte schon einige derartige Gegenden kennengelernt, aber eine solche geradezu unterseeische Tiefe war mir doch noch nie untergekommen.
Zu mittag konnte man das Boot an einer schattigen Stelle anhalten, an einem Baum am Ufer vertäuen und in der durch den Schatten gedämpften Mittagshitze, umgeben von großer Stille und einem kleinen, immerwährenden Plätschern, das Mittagessen an Bord zubereiten und einnehmen und nach dem Kaffee wieder ablegen.
Ganz nebenbei bekam man eine Lektion über die Flussschifffahrt und deren bauliche und technische Organisation, die alle diese vielen Wasserstraßen zwischen Frankreich und Polen im 19. Jahrhundert befahrbar gemacht hatte. Für das heutige Transportwesen ist ein großer Teil davon überflüssig geworden; wir sahen während der sechs Tage einen einzigen "richtigen" Lastkahn. Der Verkehr war ansonsten touristischer Natur, und wieder einmal konnte man beobachten, wie der Tourismus, besonders wenn er in allgemein verträglicher Dosis verabreicht wird, zur Belebung oder Wiederbelebung verödeter Regionen einen guten Beitrag leistet. Wann die Dosis zur Überdosis wird, darüber wird man sich niemals einigen. Aber das heurige, das schreckliche Jahr 2020 führte einem als Bewohner einer Urlaubregion, in der Eingeborene und Fremde gern einträchtig den Übertourismus beklagen, anschaulich vor Augen, was los ist, wenn nichts mehr los ist, wenn niemand mehr kommt (oder kommen darf). Dabei ist vorderhand von den mittel- bis längerfristigen Folgen des durch die Große Angst hervorgerufenen touristischen Stillstands ja noch nichts zu merken gewesen.
So schipperten wir dahin, saßen und schauten. In der Regel steuerte unser vierzehnjähriger Sohn, der das Steuer schon bei der ersten Probefahrt im Abfahrts(und Ziel-)hafen Scey-sur-Saône an sich gerissen hatte und bis zuletzt nicht mehr losließ. Einige Male, dann schon auf dem Rückweg, durften auch die Mädchen dran, wenn uns die Karte gerade keine Schleuse und auch sonst nichts Schwieriges für die nächste Zeit vorhersagte. Da konnte er sich endlich auf ein Stündchen zu seiner Lieblingsbeschäftigung zurückziehen, dem Spielen mit dem kleinen Maschinchen, das ursprünglich zum Telefonieren erfunden wurde und jetzt zum Lieblingsspielzeug einer ganzen Generation avanciert ist. Ich blieb, wo ich war, ausgerüstet mit der Landkarte und hoffentlich nicht nachlassender Wachsamkeit, auf dem Oberdeck, wo wir, dem anhaltend schönen Wetter sei dank, fast den ganzen Tag zubrachten. Abgesehen von der Frage, ob wir in absehbarer Zeit wieder eine Ortschaft finden würden (es sah meist gar nicht danach aus), war unsere größte Sorge, sich nicht unversehens einen Sonnenbrand zuzuziehen.
Insgesamt passierten wir 26 Schleusen auf der hundert Kilometer langen Strecke, auf dem Rückweg demgemäß nochmals so viele. Das sind, für eine solche pittoreske Strecke an einem kleinen Fluß, verhältnismäßig wenige, und deswegen hatten wir diese Route ausgesucht. Sie sollte technisch unschwierig und nicht allzu überlaufen sein – und so war auch das Frankreich, durch das wir uns nun bewegten, eben besonders tief ausgefallen.
Stefanies Freundinnen hatten, wie gesagt, glaubhaft versichert, das ganze sei nicht schwierig, die Liste der Verkehrszeichen und die "Navigationshinweise" im Kanalführer, den wir uns angeschafft hatten, ließen die Flussschifffahrt hingegen doch eher anspruchsvoll erscheinen. Auch die pädagogisch wertvollen einschlägigen Filme, die wir auf YouTube fanden, konnten die Bedenken nicht wirklich ausräumen. Im Endeffekt fanden wir uns schließlich doch eher in der Kategorie "nicht schwierig" wieder, zumal ein solches Boot darauf ausgelegt ist, dass man an einer Mauer entlangschrammt, ohne dass dabei gleich ein veritabler Schaden entsteht. Man fährt ja nicht schnell. Es gibt keine scharfen Kurven, es darf auch keine geben, und möchte man stehen bleiben, muss man rechtzeitig an den Rückwärtsgang denken. Das Passieren einer Schleuse braucht in erster Linie Zeit. Im übrigen hatte der Bootsverleih uns Anfängern – sicher ist sicher – ein soweit tadelloses, aber, sagen wir, durchaus angejahrtes Exemplar der Pénichette ausgefolgt. So heißt der erfolgreiche Schiffstyp, der einer alten Sorte von Lastenkahn nachempfunden ist. Dem Originaldesign war das Oberdeck hinzugefügt worden, von dem aus man ebenso wie von innen (im Schlechtwetterfall) steuern konnte. Das war luxuriös.
In unserem Streckenabschnitt waren alle Schleusen automatisch betrieben. Als Laie hätte man es ihnen kaum zugetraut, aber sie funktionierten tatsächlich, und bis auf ein einziges Mal auch klaglos. Das eine Mal bot mir Gelegenheit, im Angesicht des knatternden und spatternden Nottelefons mein etwas angerostetes Französisch auszupacken und auf Tauglichkeit in Stresssituationen zu prüfen. Das Französisch war dann wie die Schleusen: rostig eben, aber gar nicht so schlecht in Schuss.
Recht spannend gestaltet sich stets die Anfahrt auf eine Schleuse. Zuerst späht man umher, ob ein anderes Boot gerade mit der Durchfahrt beschäftigt ist, auf der anderen Seite wartet oder auf der eigenen, was unter Umständen zusätzliche Wartezeit bedeutet. Um die Schleuse in Betrieb zu setzen, gibt es zunächst eine Stange, die etwa 30, 40 m vorher von einem über den Fluss gespannten Seil herabhängt und die man in der Anfahrt erwischen und um eine Vierteldrehung nach rechts drehen muss. Dazu muss man, nachdem man diese Stange ausgemacht und anvisiert hat, ausreichend gut zielen, dann langsam genug anfahren und dann eben – erwischen. Ist das gelungen, macht man das Boot am Rand fest und wartet, bis das Schleusentor sich öffnet und man langsam und vorsichtig einfahren kann; wenn nicht, versucht man rückwärts zu fahren und das ganze nochmals von vorn anzufangen. In der Praxis bringt es das ganze Manöver mit sich, dass die vorher in der Sonne friedlich dahindämmernde Mannschaft in hektische Aktivität verfällt, besonders die zwei oder drei am Bug Postierten, deren Aufgabe zunächst darin besteht, das Boot mittels Enterhaken von den Seitenwänden fernzuhalten, sodann, wenn klar ist, an welcher Seite man es anbinden muss, dies zu bewerkstelligen. Hiebei sei der hochdramatischen Fotos Erwähnung getan, mit denen wir vor dem Kardinalfehler gewarnt wurden, den man bei diesem Manöver begehen kann: nämlich dann, wenn man flussabwärts fährt, das Wasser also aus der Schleusenkammer ausgelassen wird, das Boot am Oberrand der Seitenmauer festzuzurren, was nach erfolgtem Wasserablassen bewirkt, dass das Boot nun frei und schräg in der Luft an dieser Mauer hängt. Die Fotos waren so eindrücklich, dass jedenfalls wir den Kardinalfehler nie begangen haben.
War die Schleuse passiert und man steuerte wiederum ins Freie, Weite hinaus, gab es stets Beifall von der Mannschaft für sich selber, und man konnte bis auf weiteres wieder in Dämmerschlaf verfallen, bevor neue aufregende Manöver anstanden. Zweimal galt es einen der historischen Tunnel zu passieren. Die sind einspurig und ziemlich finster und erfordern gesteigerte Aufmerksamkeit.
Immerhin ist das Boot gute zwei Meter breit und sieben Meter lang, hat also ungefähr Lieferwagen-Ausmaße. Unser Knabe manövrierte es durchwegs cool und zugleich behutsam durch die Gewässer. Nur ein einziges Mal, als in der Anfahrt auf ein Wehr, wo das Wasser einen Meter hinabstürzte (mit einer weiteren Schleuse nebenan), das Boot plötzlich nicht mehr folgte, sondern eigensinnig nach links abzudrehen anfing, wurde er nervös.
So ging es, Tag für Tag, durch Wiesen und Felder, durch Wald und Busch; Umkehrpunkt war Auxonne, der einzige Ort, den man vielleicht auf einer handelsüblichen Landkarte finden kann. Während es über Land nur einfach weit und leer war, konnte man in Auxonne und vor allem in Gray-sur-Saône, dem anderen kleinen Städtchen auf der Route, die Auswirkungen der dramatischen Landflucht in Augenschein nehmen, die das weite Frankreich heimsucht wie so viele Gegenden im älter werdenden Europa. Ganze Straßenzüge der Innenstadt, in denen jedes einzelne Geschäft zugesperrt hatte, korrespondierten auf eine makabre Art mit dem supermodernen Supermarkt "vor den Toren", draußen am Fluss. Den stimmungsmäßigen Höhepunkt bildete der Palais de Justice (Justizpalast) in Auxonne, an dem ein Schild "A LOUER" (zu vermieten) hing.
Und plötzlich war die Woche um. Wir waren wieder im Hafen von Scey-sur-Saône, zogen aus unserem schwimmenden Häuschen aus, in dem wir gewohnt hatten, gekocht, gegessen, geschlafen, geduscht etc., und mit dem wir durchs Land gefahren waren, luden das Gepäck wieder ins Auto und brausten heimzu, anfangs durch die wiederum leere Freigrafschaft, wie die Franche-Comté auf Deutsch heißt. In Belfort gab es das letzte (vorzügliche) Eis, für die Eltern Kaffee, und die letzte aus der verschwindend geringen Zahl an Sehenswürdigkeiten, die diesmal, zur Erleichterung der Kinder, die gotische Dome nur in homöopathischen Dosen erträglich finden, auf dem Programm standen.
Diese letzte Sehenswürdigkeit ist nicht zuletzt eine solche, weil hier Monsieur Bartholdi am Werk war, der gewissermaßen populärste unbekannte Bildhauer der Weltgeschichte. Er stammt aus dieser Gegend, und der Welthit, den er verantwortet, ist die Freiheitsstatue in New York. Der Stadt Belfort hat er unter anderen Werken einen gigantischen steineren Löwen hinterlassen, der an die heldenhafte Verteidigung der Festung gegen die deutschen Truppen im Krieg 1870/71 erinnern soll, heutzutage also gewissermaßen ein antieuropäisches und damit eigentlich verpöntes Denkmal, das an den ewigen Zwist erinnert, in dem die zwei großen Nationen im Herzen des Kontinents so lange lagen, und vor allem an das Selbstbild der französischen Nation zwischen der vergangenen Niederlage und dem kommenden, dem Großen Krieg.
Es war Vormittag, und der Löwe von Belfort (aus dem roten Sandstein der Vogesen, aus dem auch das Strassburger Münster erbaut wurde) lag im Schatten und sträubte sich, lichtmäßig gesprochen, gegen das Fotografieren. Es war auch überraschend frisch hier heroben auf dem felsigen Gupf, an dem sich damals die tapferen französischen Truppen gegen die Übermacht festgekrallt hatten; unten fing die Sonne schon an zu heizen, wie sie eine ganze Woche lang brav geheizt hatte. "Du brauchst einen Sonnenhut", sagte meine Frau. Also setzte es zum guten Schluss einen neuen Strohhut klassischer französischer Machart, und anschließend fuhren wir durch die mit Autos und Ortschaften und Leuten vollgestopfte Schweiz, gingen beim Versuch, an einer Autobahnraststätte eine Jause und etwas zu trinken zu kaufen, jäh unseres restlichen Reisebudgets verlustig, und kurze Zeit später waren wir wieder daheim.
Frankfurtern Allgemeine Zeitung, Reiseblatt, 21.1.2021
oder
Der Himmel über Innsbruck ist dieser Tage sehr blau, um die Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Die Jahreszeit ist der Vorfrühling, die Wiesen noch gelblich kahl, verstreut blühen ums Haus Krokusse und Schneeglöckchen, von den gepflanzten Spezies macht sich auch der Märzenbecher bereit, naturwüchsig blühen die immerwährenden Gänseblümchen, dazu an der bestimmten Stelle hinterm Haus wie alle Jahre, klein, zart und blass zitronengelb die Himmelschlüssel. Im Gemüsegarten sprießt die erste Petersilie, dazu "Red Giant" und Löffelkraut, Blattkoriander und Barbarakraut, vom Winter her sind ein paar letzte Kohlsprossen und etwas Federkohl übrig und, erstaunlicherweise, drei kleine Exemplare vom Radicchio. Wir gehören hier auf dem Plateau über der Stadt zu den wirklich Privilegierten. Wie es eine Nachbarin auf den Punkt brachte, die wir über den Zaun hinweg grüßten, während sie gerade das kleinere ihrer zwei Kinder im Kinderwagen durch ihren Garten schob: "Halleluja!"
Auf den Vorfrühling folgt üblicherweise der Spätwinter, diesmal hat der Wetterdienst ihn fürs kommende Wochenende avisiert. "Schnee bis in die Tallagen" heißt die zugehörige Formulierung.
Im Augenblick hält sich der Schnee noch ein Stück weiter oben auf, wo er "der Jahreszeit entsprechend" hingehört. Von dort gleißt er im Mittagslicht mit einer Farbe, die man kaum beschreiben kann, eine Art Steigerungsstufe von Weiß, die den Augen weh tut.
Dem Himmel fehlen die Kondensstreifen. Als ich ein Kind war, vor 55 Jahren, waren sie eine Sensation. Da rief jemand "ein Düsenjäger!", alle staunten gemeinsam zu dem weißen Strich empor, knapp hinter dem winzigen silberglänzenden Ding noch scharf gezogen, bald mehr und mehr im weiten Blau zerfließend. Einer der Erwachsenen erklärte, dieser Flieger fliege von Nord nach Süd, also vermutlich von München nach Rom, jener von West nach Ost, also Zürich-Wien. So bekamen wir, zwischen all unseren tausend Bergen, einen Überblick über die Himmelsrichtungen. Bei den Erwachsenen schwang in der Stimme noch etwas von der Sorge, ja Angst, mit der sie einige Jahre früher den Himmel beobachtet hatten.
Jetzt ist es wieder so, aber ohne Angst, dafür mit Staunen. Staunen über etwas, das nicht da ist. Ganz selten sieht man noch ein Flugzeug weit oben dahinziehen, man denkt "Die letzten, die noch nach Hause kommen", und auf dem lokalen Flughafen sieht es auch nicht anders aus. "Heute früh ist einer gestartet", sagt meine Mutter, die dort in der Nähe, etwas oberhalb des Flughafens wohnt, und die ich derzeit nicht besuchen kann, am Telefon. "Seither nichts mehr."
Dazu diese Ruhe in der Stadt, über der Stadt, man hört die Kirchenglocken wie sonst nur bei gewissen Föhnlagen. Auch der Wald, der das Haus umgibt, ist so ruhig, wie er es zuletzt vor Jahrzehnten war. Ein einsamer Wanderer geht am Unterrand der Wiese vorbei. Ich höre ihn husten und denke mir, Vorsicht. Der vorgeschriebene Mindestabstand wird allerdings beinah um das hundertfache überschritten.
Am Samstag sind wir heraufgezogen, ein Auto voller Kinder, Katzen, Kleidung, Schulsachen, Lebensmittel (das Klopapier nicht zu vergessen!), dann noch ein Auto voller Lebensmittel und mit all den Sachen, die das erstemal nicht Platz hatten oder vergessen wurden, für alle Fälle noch einmal eine Ladung Klopapier. Das Regal im Supermarkt war schon bedenklich leer. Auf dieser Fahrt hatten wir einen Patschen (österr. für Platten), und der freundliche Herr vom ÖAMTC (österr. für ADAC) sagte mir, etwas an der Spur stimme nicht, deswegen sei der Reifen einseitig abgefahren und endlich kaputt gegangen, bei dem anderen blühe uns in Bälde das gleiche. So muss ich morgen nochmals in die Stadt. Der Mechaniker meinte, mein Problem falle unter seine derzeitige Regelung "für Notfälle geöffnet", er könne mich also drannehmen.
Unser Haus steht ganz allein im Wald oberhalb der Stadt, 15 bis 20 Minuten mit dem Auto, und nachdem im reifen Alter von 86 mein Vater den Beschluss fasste, er könne sich nicht mehr um alles kümmern, gehört das Haus nun mir höchstpersönlich, und nicht erst seither, aber seither besonders, ist es der Hauptgrund dafür, daß wir fast überhaupt nicht mehr verreisen, ein Zustand, der nun durch die Ausgangssperre noch etwas gesteigert wird.
Wir wohnen normalerweise für sechs Monate im Jahr hier, von Ostern bis Allerheiligen, heuer voraussichtlich sieben. Vor 64 Jahren hat der Vater das Haus mit dem Erlös aus einem überraschenden Bucherfolg erworben. Die Entscheidung für den Kauf wurde auch durch die Zeitstimmung beeinflusst: wer weiß, ob nicht bald noch ein Krieg kommt, dann wäre man hier etwas aus der Schusslinie. Es wurden immer wieder Pläne geschmiedet, aus der Stadt ganz hierher zu ziehen, aber irgendwie wurde nie etwas daraus, es blieb unser Haus für die Sommermonate. Viel später, als sich die Familienverhältnisse scheidungsbedingt verkomplizierten, wohnte meine Mutter hier im Sommer, und noch später, als ich mir eine nach heutiger amtlicher Festlegung "kinderreiche" Familie angelacht hatte, kamen wir als Bewohner an die Reihe. Wir sind jetzt also zu fünft hier, zwei Erwachsene, drei Kinder, auch das ist jetzt, könnte man sagen, ein Privileg.
Zu dem immer schon großen Gemüsegarten und den Kindern haben sich im Lauf der Zeit als weitere Reisehindernisse zahlreiche Haustiere in Gestalt von Katzen und Hühnern gesellt. Derzeit sind der Hühner acht, es waren auch schon fünfzehn. Im Augenblick stellt sich die Frage, wie wir in diesem Frühjahr zu Nachschub kommen sollen, da der übliche Kleintiermarkt vorderhand nicht stattfinden wird. Das jetzt vorhandene Volk – und darin gleicht es den europäischen und einigen anderen Völkern – ist stark überaltert. Wie übliche Hühnerhalter verhalten wir uns nur im äußersten Notfall; das Umbringen unserer Tiere zählt nicht zu unseren Lieblingsbeschäftigungen. Und nun, das Frühjahr ahnend, strengen sich auch alle an und legen, was das Zeug hält. Die Eier, die wir von ihnen bekommen, sind naturgemäß die besten der Welt, "freilaufend" ist in diesem Fall ein Hilfsausdruck. Dafür muss man rund ums Haus freilich aufpassen, wohin man tritt.
Selbst ohne das ominöse Virus sind wir also nicht mehr besonders mobil, nun ist auch für alle anderen Schluss damit. Mit einem Schlag sind wir nicht die, die noch nie in New York, Südafrika oder Bali waren und auch sonst nirgends, sondern die Privilegiertesten überhaupt. Wir können uns nämlich bewegen: im Haus, ums Haus, im Garten, auf der Wiese, in den Wald. Der nächste Nachbar ist 300 m entfernt, und nördlich (oberhalb) von uns gibt es überhaupt nur Wald, Felsen und schroffe Gebirgsketten, bis nach etwa 30 km Luftlinie irgendwann einmal Österreich aufhört und Deutschland anfängt.
Gegen Abend schickt ein alter Freund einen Blog, darin spricht ein deutscher Arzt über das Virus und legt uns dar, dass das alles nicht so wild ist und sich auch bald wieder legen wird. Umso besser. Der Freund war bis vor vierzehn Tagen selber Arzt, jetzt ist er in Pension und hat offenbar Zeit genug, sich im Internet herumzutreiben.
Donnerstag. In der Früh wird bekanntgemacht, dass laut Erlass des Landeshauptmanns (österr. für Ministerpräsident eines Bundeslandes) ab sofort auch das Überschreiten von Gemeindegrenzen nicht mehr gestattet ist. Wir befinden uns in der ersten Gemeinde außerhalb von Innsbruck, ich rechne aber nicht damit, dass da gleich irgendwelche Straßensperren oder ähnlich Martialisches errichtet werden. Es ist auch nichts dergleichen zu sehen, als ich die Viertelstunde in die Stadt hinunterfahre.
Ich stelle dem Mechaniker das Auto hin, er verspricht, sich umgehend drum zu kümmern, dann gehe ich zur Straßenbahn, um in die Stadtmitte zu kommen. Das Viertel ist auch sonst sehr ruhig, heute ist es über-ruhig. An der Straßenbahnhaltestelle geht ein älterer, offenbar trotz der Morgenstunde etwas angeheiterter Mitbürger vorüber und ruft mir schon von weitem zu "Die Welt geht unter!" Er macht dabei den Ton von Predigern nach, die es, glaube ich, bei uns gar nicht gibt. Höchstens in Amerika. Ich rufe zurück "Aber noch nicht so schnell!" Mein Ton ist eher der, den ich anschlage, wenn jemand allzu theatralisch über das Wetter jammert.
Die Straßenbahn kommt bald, vor mir steigt der vermutlich letzte in Innsbruck vorhandene Tourist ein, dem Äußeren nach aus Ostasien, der Fahrer will ihm keine Fahrkarte verkaufen und schickt ihn zurück auf die Straße, da sei ein Automat. Ich halte dem Fahrer das gelbe Rabatt-Kärtchen hin, das man beim Einkauf von den Innenstadtkaufleuten bekommt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln gegen eine Fahrkarte tauschen kann. "Für Sie gilt das gleiche", bellt er mich an, ich bleibe aber in der Bahn sitzen, die ohne den Asiaten losfährt. Erst mittags bei der Rückfahrt kapiere ich, dass der Fahrer nicht nur auf die landesübliche Weise unhöflich war, sondern virusbedingt vorsichtig.
In der Innenstadt ist es auch überruhig, etwa wie sonst an Sonntagvormittagen, nur Apotheken und Lebensmittelhändler haben offen. Auch die Markthalle ist offen, allerdings fehlen die meisten Bauern. Die wenigen anwesenden Personen sind außergewöhnlich freundlich zueinander, das Wort zuvorkommend ist am Platz, wo sonst ein rescher, ans Berlinische grenzender Ton herrscht.
Im Supermarkt gibt es alles, auch alles, was am Samstag fehlte, nur frischer Germ (österr. für Backhefe) ist nicht zu haben ("Krieg ich nicht geliefert" sagt mir der Herr über die Regale, ohne weitere Angabe von Gründen).
Der Mechaniker ist anderer Meinung als der Pannenhelfer. Problem mit der Spur gebe es keines und ich solle einfach die Sommerreifen montieren. Also kann ich das Auto holen, nachdem ich in der Stadt alles besorgt und in der Wohnung die Blumen gegossen habe, und es geht wieder zurück hinauf aufs Plateau.
Am Abend schickt ein Freund aus Deutschland einen anderen Blog mit einem anderen deutschen Arzt, des Inhalts, der von gestern habe Unrecht und die Sache sei doch erheblich ernster, nämlich ernst.
Später schauen wir uns auf Netflix wieder eine Folge von "The Crown" an. So kann man im Geiste reisen, und das nicht nur im Raum, sondern auch noch in der Zeit und der Gesellschaftsschicht. Heute abend reisen wir nach Aberystwyth, wohin der junge Prinz Charles 1969 auf ein Semester geschickt wird, um etwas Walisisch zu lernen, damit er anschließend seine Antrittsrede als Prince of Wales auf Walisisch halten kann. Aberystwyth ist so schön, wie wir es von 1994 in Erinnerung haben, als wir einmal eine Woche dort verbrachten. Und es ist eindeutig schöner, diesen Film zu sehen, als selber Prince of Wales sein zu müssen. Ein durchaus unangenehmer Beruf.
Am Samstag bricht der vom Wetterbericht avisierte Spätwinter an. Vom versprochenen Schnee ist allerdings nichts zu sehen. Wir wissen zwar über die Weltdurchschnittstemperatur in hundert Jahren gut Bescheid, bei der Wetterprognose für die kommenden 24 Stunden hapert es noch ein bisschen. Es hat in der Nacht geregnet, mit einem Zauberschlag ist die Wiese grün geworden, die Märzenbecher sind erblüht.
Auch die Marillen haben angefangen zu blühen, und mittlerweile ist zwar kein Schnee mehr, dafür aber Frost angekündigt, was für die heurige Ernte nichts Gutes verheißt. Selbst wenn man die blütentragenden Zweige mit Tüchern verhüllt: mehr als eine oder zwei Frostnächte stehen sie selten durch. Da kann man nur hoffen, dass die Vorhersage wieder nicht ganz hält, was sie verspricht.
Das sind aber die normalen landwirtschaftlichen Unwägbarkeiten, bei einer Seehöhe von 900 m ist das Klima hier bei uns doch recht rau, oder kann es zumindest sein, wenn es grade will.
In den Nachrichten ist davon die Rede, auch die Parks zu sperren und die Leute überdies dran zu hindern, an den Stadtrand zu fahren und im Wald spazieren zu gehen. Ist das der Moment, wo die vernünftige Vorsorge und Vorsicht in panikhaftes Fuchteln umschlägt?
Wir gehen jedenfalls am Nachmittag ein Stück in Richtung Deutschland, genauer gesagt auf die Alm, an einem normalen Samstag, selbst bei Schlechtwetter, wären hier eine Menge Leute unterwegs, heute begegnen uns insgesamt ungefähr drei Personen, auf der Alm, die ihren Betrieb seit einer Woche eingestellt hat, nochmals drei: ein Radfahrer, der grußlos gerade wieder abfährt, ein Läufer, der auf dem Weg außen vorbeizieht, und ein herkömmlicher Almbesucher, der sich eine Flasche Bier aus dem Selbstbedienungskühlschrank geholt hat und damit so tut, als sei alles normal.
Die zweite Woche. Machen sich die Mühen der Ebene bemerkbar? Ein neuerlicher Ausflug in die Stadt; eines der Güter, die beim allgemeinen Hamsterkauf vor zehn Tagen vergessen wurde, sind Kohlen. Mit ihrer Hilfe wird der alte Teil des Hauses temperiert, genauergesagt die "alte Küche", die jetzt mein Arbeitszimmer ist und wo außerdem die Wäsche trocknet, wenn die Witterung kein Aufhängen im Freien erlaubt. Die Frage, wie lange es überhaupt noch Kohlen zu kaufen gibt, dürfte auf unbestimmte Zeit verschoben sein. Auf telefonische Anfrage sagte mir der Händler, wenn ich pünktlich um acht Uhr morgens zur Stelle sei, könne er mir Kohlen verkaufen, da sei jemand anwesend, der anschließend zum Ausliefern losfahren würde. Dieser Teil des Wirtschaftslebens ist also noch in Betrieb, so irgendwie. Bei dem Paketdienst, bei dessen Abholstelle ich ein zur Rezension geschicktes Buch holen sollte, meldet sich am Telefon niemand, bei der Abholstelle, einem Fotogeschäft, auch nicht.
Das zweite Vergessene sind Tonerkartuschen für den Drucker. Vor allem für das Homeschooling, das wir jetzt veranstalten, wird der Drucker dringend gebraucht. Diese bisher als äußerst dubios geltende pädagogische Methode darf jetzt das ganze Land gemeinsam ausprobieren. Die Lehrer schicken alle möglichen Zettel, die ausgedruckt und sinngemäß ausgefüllt werden sollen.
Die Kartuschen gibt es in der Innenstadt bei dem erstaunlichsten, bei Alt und Jung beliebten Kramladen der modernen Zeiten, der als Drogerie firmiert, weswegen er (noch?) geöffnet ist. An den Regalen mit nicht essbaren Waren kleben allerdings Hinweise: "Dieser Bereich ist geschlossen. Erkundigen Sie sich bitte beim Verkaufspersonal." Jemand vom Personal räumt gerade neben mir und dem Tonersortiment Sachen in ein Regal, ich frage sie, was das bedeute. Sie sagt: "Sie sollen diese Waren nicht kaufen, aber Sie dürfen, wenn sie wollen." Ich sage: "Das verstehe ich nicht." Sie sagt: "Ich auch nicht."
Dann noch ein Besuch in der Markthalle. Es ist da leer, viel leerer als sonst, die ganze Stadt ist leer, und nicht nur wegen der morgendlich bitteren Kälte scheint mir die allgemeine Stimmung überaus gedämpft. Der Kinderspielplatz vor dem Haus, wo wir den Winter über wohnen, ist mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Und als ich auf der Heimfahrt die Stadtgrenze passiere, steht dort tatsächlich eine Polizeistreife, die das Gemeindegrenzenübertretungsverbot in Richtung Stadt überwacht. Zwei oder drei Autos haben angehalten, und die Fahrer machen sich offenbar bereit, den Zweck ihrer Fahrt in die Stadt plausibel zu machen. Ebenfalls abgesperrt ist der Parkplatz am Waldrand, den normalerweise die Wanderer benützen, die von da weg in unsere Richtung und weiter zur Alm marschieren. Das wirkt traurig und irgendwie sinnlos.
Der Nachsendeauftrag der Post tut das, was er jedes Jahr nach unserem Umzug tut: er funktioniert nicht. Seit etwa einer Woche sollte all das, was heutzutage noch auf Papier gedruckt und so verschickt wird, inklusive unserer Tageszeitung, vormittags zwischen neun und zehn hier eintreffen. Das tut es aber nicht. Ich telefoniere mit dem Kundenservice; zwei Tage später kommt tatsächlich ein respektabler Packen Papier an. Man hat sich zwar mittlerweile digital und per Fernsehen informiert, dennoch frönt man gerne dem alten Laster, nämlich, vorzüglich mit hochgelagerten Beinen, in groß- und weniger großformatigen Presserzeugnissen zu blättern.
Später ruft die Nachbarin an. Das ist die, die 300 m weiter talwärts wohnt. Sie erkundigt sich nach dem Befinden, avisiert eine größere Lieferung mit altem Brot für unsere Hühner und erzählt, die Polizei patrouilliere doch wahrhaftig vor ihrem Haus am Waldrand, wo die Gemeindegrenze zwischen Innsbruck und Rum verläuft, und schicke die paar Wanderer, die sich hierher durchgeschlagen haben, wieder zurück in die Stadt. Ihrem Sohn, der eine Runde mit dem Fahrrad drehen wollte, sagten sie, er solle wieder ins Haus hinein.
Die Marillenblütenpracht hatten wir eingehüllt. Drei Nächte lang war der Frost sehr stark, die Chancen für eine Marillenernte stehen nicht gut. Der Tag heute ist unmerklich wärmer, der Wind geht, und von Süden, vom 40 km entfernten, plötzlich unerreichbar gewordenen Italien, schieben sich Wolken über die Berge. Am Wochenende soll es schneien.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Reiseblatt, 12.4.2020
https://www.faz.net/aktuell/reise/leben-waehrend-coronazeiten-in-einer-huette-ueber-innsbruck-16706147.html
Der Ausdruck "Jammerergeneration" stammt von meinem Vater, mit dem meine Schwester und ich einst, trotz erheblicher ideologischer Differenzen, immer gerne diskutierten. Das hatten wir wohl von ihm, der mit uns auch gerne diskutierte, alle in der festen Meinung, bei entsprechender Stärke der eigenen Argumente den anderen schließlich doch noch überzeugen zu können. Und anschließend konnten wir Kinder uns maßlos über seine Verbohrtheit ärgern, wenn er die scharfsinnige Kapitalismuskritik auch als persönlichen Affront nahm (er war ein ziemlich erfolgreicher Unternehmer), wohingegen er sich über das Wolkenkuckucksheim, in dem wir uns offenbar, trotz seiner vorbeugenden weltanschaulichen Erziehungsmaßnahmen, eingenistet hatten, nicht minder maßlos alterierte. So hatten wir alle recht, jeder für sich, und dabei blieb es.
Im übrigen lebten wir wie die Maden im Speck und waren brave Kinder. Zwar hatte ich das Studium der Geistenwissenschaften bald wegen unaushaltbarer Langweiligkeit und endlosens Sitzens in geschlossenen Räumen aufgegeben, doch verdiente ich mein eigenes Geld mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln, Romanen und Bergbüchern; er hatte das in seinem früheren, weniger erfolgreichen Leben als Schriftsteller auch so gehalten und war immerhin stolz, daß ich diese Tradition weiterführte. Meine Schwester studierte fleißig Medizin, da konnte man über ihr Engagement für die "Kritische Medizin Innsbruck" hinwegsehen, die sich für Abtreibung, Homöopathie, Akupunktur und gegen einen frauenfeindlichen Professor der Gynäkologie an der hiesigen Uni einsetzte.
Das viele schöne Geld, das der Vater verdiente und das uns jedenfalls ein sorgenloses Leben garantierte, kam von einer Seilbahn, also von einem wesentlich naturzerstörerischen Unterfangen. Neben der Kapitalismuskritik erschien damals, fast aus dem Nichts, plötzlich die Natur ganz oben auf der Dringlichkeitsliste der jungen Menschen, die nach dem Edlen und Hohen strebten. 1977, gewissermaßen das Jahr der Wende, erkannten wir, daß die RAF einen Irrweg beschritten hatte. Gewaltlosigkeit stand auf der Agenda, und die vorderhand größte Bedrohung stellte die Kernkraft, nämlich ihre sogenannte friedliche Nutzung dar, gegen die man sich mit aller Macht zu stemmen hatte. Noch waren wir wenige, aber wir würden bald viele sein, und da war jeder einzelne gefragt. Wir demonstrierten gegen das im Bau befindliche erste österreischische Atomkraftwerk in Zwentendorf, das dann ja tatsächlich nach seiner Fertigstellung nie in Betrieb ging, und während meines Auslandsjahrs in Schottland vermehrte ich die doch recht geringe Zahl der dortigen Fortschittlichen um meine werte Person, als es eine Kundgebung gegen das geplante AKW in Torness bei Edinburgh gab, wo sich in einem für drei Tage aufgebauten Protestcamp die alten Trotzkisten und die jungen frauenbewegten Frauen mit uns mehr allgemein Bewegten ein Stelldichein gaben und der Naturreis, der da an uns alle verfüttert wurde, eine weltweit einzigartige pampig-geschmacklose Note hatte. Englisch eben. Diese kulinarischen Herausforderungen waren ein Hemmschuh für das Gedeihen der Bewegung; seither haben die Grünen immerhin kochen gelernt und werden von einer TV-geeichten Meisterköchin im EU-Parlament vertreten.
Ein paar Jahre später, man schrieb 1983 und der Sommer war, obwohl es noch lange kein Klima im heutigen Sinne gab, doch sehr heiß, rief Peter mich an, den ich bisher nur flüchtig gekannt hatte, und sprach mit mir über die Gründung einer "Alternativen Liste" für die kommenden Gemeinderatswahlen, und ob ich Interesse hätte daran mitzuarbeiten. Gelassen sprach er das große Wort aus: "Die Bewegung braucht dich." Das hatte noch gefehlt, um meinen, wie es bei Georg Heym 1913 hieß, "brachliegenden Enthousiasmus in dieser banalen Zeit" endlich zu fokussieren. Es folgten zwei, drei aufregende Jahre. Ich machte einen richtigen Wahlkampf mit. Er war, für die damaligen Verhältnisse, ein durchschlagender Erfolg. Wir errangen ungefähr 3 Prozent der Stimmen und einen Sitz im Gemeinderat.
Heute hat meine Heimatstadt einen grünen Bürgermeister, der bunte Parkbänke aufstellen läßt, auf denen geschrieben steht: "Diese Bank setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Akzeptanz und Gleichberechtigung der LGBTIQ Community." Heute, nämlich am 27. Juni 2019, steht in der Zeitung, daß meine Stadt den Klimanotstand ausgerufen hat. Damals standen wir auf der Prachtstraße dieser selben Stadt und verteilten Flugblätter, auf denen "für ein anderes Tirol" geworben wurde. Die Leute blieben stehen und fragten uns, was uns an diesem Tirol nicht gefalle, da wir ein anderes wollten. Das war, so auf die direkte und geschwinde, gar nicht so leicht zu erklären, aber wir gaben uns alle Mühe.
Heute würde ich sagen, daß mir an diesem Land, weil ich eben, wohl genetisch bedingt, ein querulantisches Wesen habe, alles mögliche nicht paßt, zum Beispiel Parkbänke für die LGBTIQ-Community. Die erinnern doch ein wenig sehr an Parkbänke aus anderen Zeiten, als per Schild und amtlicher Verordnung eine bestimmte Sorte Leute dort nicht sitzen durfte.
Und nicht zu vergessen: das Waldsterben hatte gerade begonnen. Obwohl dem laienhaften Auge der tiroler Wald 1984 ziemlich genauso ausschaute wie zum Beispiel 1974, so erklärten uns die wissenschaftlichen Experten zweifelsfrei, daß er bald nicht mehr so ausschauen würde, sondern ungefähr wie der, den man auf dramatischen Schwarzweißfotos aus dem Böhmerwald bewundern konnte, wo eine Ruinenlandschaft aus ehemaligen Fichten gegen einen weltuntergangsmäßig nebelverhangenen Himmel ragte. Das war keine angenehme Vorstellung. Denn in meinem schönen Land wäre ungefähr jede zweite Ortschaft im Winter von Lawinen und im Sommer von Muren bedroht, wenn es den Wald nicht gäbe, der uns beschützt. Selbst ohne das Waldsterben, das bekanntlich dann irgendwann wieder abgesagt wurde, müssen – sogar in der Landeshauptstadt – bei ungünstigen Schneelagen Straßen gesperrt und Häuser evakuiert werden, zum Beispiel das Wochenendhaus, das meine Familie und ich etwas oberhalb der Stadt ungefähr das halbe Jahr lang bewohnen. Ein kleiner Teil dieses Waldes gehört sogar mir persönlich. Damals gehörte er meinen Eltern, und er war mir zwar vertraut, interessierte mich aber kaum im Detail, sondern mehr als Gesamteindruck, und da in diesem, wie in jedem Wald, auch da und dort ein Baum stand, der gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe war, hatten wir schon den Beweis: das war es, das Waldsterben, und es drohte nicht nur weltweit, sondern saß uns höchstpersönlich im Genick.
Bei den allwinterlichen Schitouren oder auch beim Bergsteigen im Sommer hätte mir, so etwa nach der Mitte der achtziger Jahre, auffallen können, daß an der Waldgrenze oben immer mehr kleine Bäume nachwuchsen. Das fiel mir erst später auf, und es war, wie der geneigte Leser, die charmante Leserin schon ahnen werden, es war: die Klimaerwärmung, aus der nun gerade, unter der Obhut von gewieften PR-Leuten und, sagen wir, mit etwas beschränkter Optik ausgestatteten und vom plötzlichen Ruhm und dramatisch gestiegenen Forschungsbudgets leicht benebelten Wissenschaftlern eine Krise, ja Katastrophe zu werden beginnt. Was eine richtige Katastrophe gewesen ist, könnte man versuchen, sich anhand unseres Stadtteils Wilten vorzustellen, dessen römischer Vorläufer, das Kastell Veldidena, unter etwa zehn Meter Flußschotter begraben liegt, den der zuständige Fluß, die liebliche Sill, ja einmal nach den Römern und vor uns da unter vermutlich recht unangenehmen Begleiterscheinungen herangeschafft haben muß. Aber das ist freilich eine andere Geschichte, die auf einem anderen Blatt steht, an dem andere wissenschaftliche Experten, diese mit eher bescheidenem Budget, weiterschreiben.
Das Ende meiner grünen Parteiarbeit erfolgte, schon gegen Ende der achtziger Jahre, in einem auch schriftlich festgehaltenen Tobsuchtsanfall, als auf unsere dringlichen Appelle an die Basis und den Sympathisantensumpf wieder einmal lediglich um die 450 Leute zur Anti-Transit-Demo erschienen. Wir waren nur unwesentlich mehr als die Ordnungskräfte, die demgemäß recht gedrängt um uns herumstanden respektive sich in ihren Mannschaftswagen in höflichem Abstand hinter dem nächsten Häuserblock verbargen, damit es nicht zu blöd ausschaute. Der Transit ist bis heute neben dem Speck und dem Gletscherschilauf eine einheimische Spezialität geblieben; damals protestierten wir dagegen, daß im Jahr 600.000 Lastwagen zwischen Deutschland und Italien bei uns durchbrausten. Heute sind es fünfmal so viele, und das Problem ist beim Mann auf der Straße angekommen, ebenso wie beim Landeshauptmann. Ich schickte meinen Text an vier oder fünf verschiedene Zeitungen, von denen drei oder vier ihn druckten. Es war mein bis dahin brillantester publizistischer Erfolg.
Teil des einschlägigen Sympathisantensumpfes blieb ich noch etliche Jährchen, währenddessen der zunehmend ergrünende Zeitgeist immer neue Katastrophentheorien gebar, die mir zunehmend immer weniger gefallen wollten. Schon daß das Waldsterben so klammheimlich entsorgt worden war, als der Wald sich erdeistete, nicht und nicht sterben zu wollen, sondern in Österreich und Umgebung fröhlich weiter wuchs, hinterließ bei mir einen schalen Nachgeschmack.
Beim größeren Rest der Menschheit erwies sich das Schema Waldsterben als sichere Bank, mit um so durchschlagenderem Erfolg, je abstruser die jeweiligen Horrormeldungen ausfielen. Es fand seine Fortsetzung zunächst im Ozonloch mit seinen hautkrebsbefallenen chilenischen Schafherden, oder waren es argentinische, und dann, finale furioso, dem wir gerade mit der Heiligsprechung der Hl. Greta von Stockholm beiwohnen dürfen, in der Klimakatastrophe. Zumindest während des Schuljahrs, wenn die Schüler genügend Muße zum Streiken finden, kommt es mir zeitweise fast schon zu furios vor. (Irgendeinen kleineren Weltuntergang dazwischen werde ich, das möge man mir verzeihen, vielleicht vergessen haben.)
Meine Zeitgeistallergie ist, wie es sich mit derlei Allergien zu verhalten pflegt, auch nicht besser geworden. Immerhin läßt mich die allmählich keimende Altersweisheit, zusammen mit dem erwähnten Haus im Wald, das den Umgang mit der Menschheit auf das notwendige Minimum reduzieren hilft, das Geschehen mehr aus der Ferne, im Sinn des ebenfalls schon erwähnten Gesamteindrucks, distanziert und milde gestimmt verfolgen.
Ansonsten, wie es einem so geht, wenn man älter und alt wird, bemerkt man neben dem Wandel zum Reaktionär aber auch ein Festsitzen in alten und ganz alten Lebenshaltungen, die einen schließlich und endlich, ganz nebenbei, als Angehörigen einer bestimmten Generation definieren helfen. Wie jemand in Tschechows "Onkel Wanja" sagt: "Ich bin noch einer von der alten Garde, so aus den achtziger Jahren." Gewisse Spleens habe ich mir erhalten, aus jenen nächsten achtziger Jahren nach Tschechow, so das Faible für die Mülltrennung, mit dem ich meine liebe Frau und die Kinder drangsaliere, ganz im Geiste jener kleinen Geschichte von Robert Gernhard über die korrekte Entsorgung des Teebeutels, die in dem Begriff "Altschnursammeltonne" gipfelt. Die Kinder haben zwar in der Schule das Fall Mülltrennung dazubekommen und bekleiden dort im wöchentlichen Turnus das ehrenvolle Amt des "Müllpolizisten", doch scheint der Unterschied zwischen Verpackungs- und Restmüll trotzdem, niveaumäßig, in den Bereich der höheren Mathematik zu gehören.
Oder ganz allgemein ein gewisser Naturfimmel. Wie es Kollege Jonathan Franzen mit den Vögeln hat, habe ich es mit dem Wald, zumal mit dem eigenen. Nur will mir gar nicht gefallen, wenn die alten Kampfgenossen versuchen, mir immer nocheinmal einen Bären aufzubinden, à la "Es war noch nie so heiß wie gerade jetzt", zumal wenn der aufzubindende Bär, heutzutage mit Vorliebe ein Eisbär, sich auf die Zukunft bezieht, deren Voraussage, bezüglich komplexer chaotischer Systeme wie dem Klima, nicht wesentlich leichter geworden sein dürfte. "In hundert Jahren haben wir es hier so heiß wie in Dakar." Über das Jahr 2119 weiß man nur eines ziemlich sicher: die solches sprechen, werden dann tot sein, genauso wie Sie und ich.
Schriftsteller reden, wenn sie nicht gerade von der Kunst reden, meistens vom Geld. Fangen wir also mit dem Geld an.
Ich habe in meinem Schriftstellerleben bisher fünf literarische Preise bekommen. Statistisch läßt sich folgendes feststellen: nach einer anfänglichen Häufung nimmt die Frequenz dann später stark ab (1975, 1980, 1985, 1996, 2012); mit der nächsten derartigen Ehrung wäre demnach in ungefähr zwanzig Jahren zu rechnen, und das wäre nach menschlichem Ermessen auch schon die letzte. Es sollte sich also möglichst um den Literatur-Nobelpreis handeln, damit das Gesamtergebnis einigermaßen hinkommt.
Bei der Höhe der Preisgelder zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Nummer eins war ein Anerkennungspreis, vergeben von der Tiroler Arbeiterkammer. Er bestand aus einem kräftigen Händedruck des damaligen AK-Präsidenten und einem Exemplar von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, ein wunderbares Buch, wo ich gerade dran denke, darf ich nicht vergessen, es einmal herauszusuchen und auf meine alten Tage doch noch zu lesen. Ich schätze Friedell sehr und habe schon etliches von ihm gelesen, nur in die Kulturgeschichte der Neuzeit habe ich nie hineingefunden, und das seit dem Herbst 1975. Ich weiß nicht einmal genau, weshalb.
Preis Nummer zwei wurde von der Südtiroler Künstlerschaft vergeben, oder war es die Südtiroler Autorenvereinigung, so etwas ähnliches jedenfalls. Es war ein geteilter dritter Preis, und das Preisgeld betrug, in heutiger Währung, knapp vierzehn Euro dreißig. Danach gab es im Waltherhaus in Bozen ein Buffet mit Keksen und dem damals noch sehr, sehr sauren Kalterer, das ich nicht lang genießen konnte. Nach zwanzig Minuten mußte ich los zum Bahnhof, um nicht auch noch dort im Süden übernachten zu müssen. Durch Finsternis und einen veritablen Schneesturm kämpfte sich der Zug zum Brenner hinauf, wo alle auszusteigen und über einige Schneewehen nach Österreich zu klettern und dort in einen anderen Zug einzusteigen hatten. In Innsbruck angekommen, lud ich meine Schwester, die mich begleitet hatte, ins Filou auf Rippelen und ein Glas Wein ein, womit das Preisgeld auch schon wieder aufgebraucht war.
Der Preis Nummer drei war dann viel besser. Zum ersten Mal gab es echtes Geld. Die Stadt Innsbruck machte für den dritten Platz in der Sparte Erzählende Dichtung 5000 Schilling locker, davon konnte man damals bequem einen Monat leben. Zu jener Zeit, ich war ja noch jung, lehnte ich alles Bürgerliche ab, und dazu gehörten selbstredend auch literarische Preisverleihungen. Also ging ich nicht hin. Gegen das Geld selber hatte ich natürlich nichts, das kam auch ohne weitere Umstände auf mein Bankkonto geschneit. Meine Mutter genierte das. Zunächst versuchte sie, ohne Erfolg, mich zu besseren Umgangsformen zu bekehren. Dann besuchte sie an meiner statt die Zeremonie und nahm auch die Urkunde in Empfang, die ich seither aber leider verloren habe, vermutlich, als ich in unserer Wohnung wieder einmal von einem Zimmer in ein anderes übersiedelt bin. Wie meine Bekannten wissen, wohne ich seit dem ersten Tag meines Lebens an der selben Adresse, aber immer wieder in einem anderen Zimmer. So bleibt man auch in Bewegung.
Bei diesen ersten drei guten Dingen handelte es sich um ausgeschriebene Preise. Dafür wurde ich allmählich zu alt; es war an der Zeit, daß nun Würdigungen anfingen, unverlangt auf mich herunterzuprasseln.
Und tatsächlich! Preis Nummer vier war die Krönung meiner literarischen Laufbahn. Er hieß Förderungspreis für noch zu wenig geförderte Hochbegabte, die genügend gute Freunde in Wien haben oder so ähnlich, es war dabei auch von Nachwuchs die Rede; so wie die Hecken, das Gemüse, ja die Vegetation ganz allgemein wächst ja auch die Literatur ununterbrochen nach, zumindest bisher. So ein Nachwuchsförderpreis entspräche dann etwa dem Dünger, den der Bauer aufs Feld streut, damit das Nachwachsen schneller geht und die Erdäpfel größer werden.
In der Jury saß ein damals noch wenig bekannter Schriftsteller, mit dem ich befreundet war, und der mich mit dem unschlagbaren literarischen Argument, ich hätte noch nie einen nationalen österreichischen Literaturpreis bekommen, in die Endrunde hievte. Seither ist er ein bekannter Schriftsteller geworden, und wir sind nicht mehr befreundet. Ich habe keine Ahnung, ob das zusammenhängt.
Vergeben wurde die Nummer 4 vom Bundeskanzler höchstpersönlich, der auch die Urkunde unterfertigte, allerdings, weil ein Bundeskanzler immer sehr viel Arbeit hat, nur seinen Familiennamen hinschrieb. «Klima» stand da, kurz angebunden, auf einem merkwürdig reinweißen Papier, das von Geschmacksunsicherheit des Amtes zeugte, ebenso wie die zu groß gewählte Schrifttype. Aber sonst, werden sie sich gedacht haben, schaut der Zettel allzu leer aus: also machen wir die Schrift größer!
Die Preisverleihung war irgendwann im Sommer, es war affig heiß und mir war schon vorher im Kaffeehaus schlecht vor Aufregung. Das Leben insgesamt schien mir plötzlich sinnlos und nicht wert, gelebt zu werden, was mir sonst kaum je vorkommt, und ich erwog allen Ernstes, der Festivität in letzter Sekunde doch noch fernzubleiben, aber nun waren wir schon bis Wien gereist… Es war dann alles gar nicht so schlimm. Der Kanzler hatte wegen einer Terminschwierigkeit kurzfristig abgesagt, und ich bekam eine schöne Lobrede von einem anderen wiener Schriftsteller, mit dem ich noch immer befreundet bin. Bloß hatte mir niemand gesagt, daß von den Preisgekrönten in der Regel einige Dankesworte erwartet wurden. Von selber war ich nicht draufgekommen, schließlich war es die erste Ehrung dieser Art.
Außer mir gab es noch zwei hoffnungsvolle nachwachsende Schriftstellerinnen, die da geehrt wurden. Also improvisierte ich, während die beiden nacheinander dankten, in aller Eile die einzige frei gehaltene Ansprache meines Lebens.
Die dergestalt in kürzestmöglicher Frist konzipierte Preisrede wurde, wie ich in aller Bescheidenheit behaupten darf, gar nicht schlecht. The prospect of being hanged wonderfully concentrates the mind, wie Dr Johnson seinerzeit so richtig bemerkte. In der Rede erläuterte ich, wofür ich das Preisgeld, beachtliche 70.000 Schilling, auszugeben gedächte. Ich rechnete dem geneigten Publikum kurz vor, wie viele Dosen vom besten Katzenfutter für unseren Kater Franz Ferdinand ich von diesem Geld würde anschaffen können: Ferdls Gourmet-Ernährung war auf diese Weise bis an sein seliges Ende gesichert. Dann war es auch schon wieder vorbei. Mit großer Erleichterung stolperten meine Frau und ich dann hinaus auf die immer noch glühend heiße wiener Innenstadtstraße, wo wir uns in einem Gastgarten den wohlverdienten ersten Gespritzten gönnten. Sie hat dann später ein schönes Buch über unseren Kater geschrieben, was allerdings eine andere Geschichte ist, die an dieser Stelle zu weit führen würde.
Sechzehn Jahre zogen ins Land, und meine Verbindungen zum literarischen Leben sind während dieser Zeit so ziemlich eingeschlafen. Ich brachte, bei immer kleineren Verlagen, noch ein paar Bücher heraus, die ich im großen und ganzen schon früher geschrieben hatte. Ich widmete mich jetzt mehr der Malerei und zusammen mit meiner Frau unserem inzwischen auf drei Kinder, zwei Katzen und vier bis neun Hühner plus Hahn angewachsenen Haushalt. Zwischen Ostern und Allerheiligen wohnen wir in unserem Sommerhaus ein Stück weit über der Stadt. Das Leben dort im Wald ist herrlich; man hat keine Nachbarn und gelangt deshalb zunehmend zu der Ansicht, daß die Welt im großen und ganzen doch in Ordnung sei, zumal wir auch unseren Fernseher nicht mehr benützen. Mit einem Wort, man bekommt kaum noch etwas von der Außenwelt mit, was im fortgeschrittenen Alter der erstrebenswerteste denkbare Zustand ist.
Um diese Zeit übergab mein Vater mir das Haus und die dazu gehörenden landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. Die eineinhalb Hektar große Wiese wird weiterhin von Pepi, dem Bauern, bewirtschaftet, der sie seit etwa fünfzehn Jahren gepachtet hat. Vollzeitbauer ist er erst seit zwei Jahren, da ist sein Vater gestorben, der es zu seinen Lebzeiten nicht übers Herz brachte, den Hof zu übergeben. Jetzt ist Pepi 61, in Pension (er war Mechaniker bei den IKB) und hat endlich Zeit, sich in Ruhe um die Landwirtschaft zu kümmern. Außerdem gehören uns noch gut zwei Hektar Wald, da bin jetzt ich der Chef. Auf meine alten Tage werde ich noch Chef von etwas! Die ersten sechzig Jahre habe ich das nicht geschafft, wohl auch nicht angestrebt. Es ist nun ein bißchen wie bei Baga, dem Helden des gleichnamigen Romans von Robert Pinget: «Je suis roi de mon cul…»
Umso überraschter und erfreuter war ich natürlich, als mir im Frühjahr 2012, gewissermaßen aus heiterem Himmel, ein weiterer Preis zuerkannt wurde. Er war vom Land Tirol ausgelobt und nach Otto Grünmandl, dem bedeutendsten Dichter der kleinen Stadt Hall in Tirol, benannt. Als Literat nicht direkt ein Welthit, dafür als Humorist und Kabarettist bekannt und beliebt geworden, – Grünmandl selber hätte es wohl ziemlich amüsiert, daß nun ein Literaturpreis nach ihm benannt worden ist. Und zu meiner eher halbseidenen Position im literarischen Leben paßte das auch ganz wunderbar.
Die für die Kultur zuständige Landesrätin gratulierte mir telefonisch, und eine Frau Berger aus der Kulturabteilung der Landesregierung fragte bei mir an, ob ich am 31. Oktober abends Zeit hätte. Dann gab es noch eine Frau Thaler aus Hall, die mit dem Organisatorischen befaßt war. Für den Festakt sei eine musikalische Umrahmung geplant. Sie bat mich, Musiker meines Vertrauens hiefür zu benennen, aber nicht mehr als fünfe, und das Honorar würde pro Person 100 Euro betragen.
Ich helfe ja gern, wo ich kann. So fragte ich unsere langjährige Freundin Martina, eine brillante Hackbrettspielerin, ob sie Lust habe, mit ein, zwei Leuten aus ihrer Band aufzutreten. Sie hatte. Dann dachte ich mir, 100 Euro, das ist auch nicht die Welt, die Musiker haben zwar nicht viel zu spielen, aber deswegen müssen sie trotzdem anreisen, ihr Gewaff auspacken, vor Ort noch einmal kurz proben, die Akustik austesten, müssen in Form sein, jedenfalls den ganzen Abend in den Auftritt investieren usw. usf., also 150 Kröten wären als Honorar nicht übertrieben, zumal der im Budget vorgesehene Gesamtbetrag von 500 damit noch gar nicht erreicht wäre. Dies teilte ich Frau Thaler mit, die ganz meiner Meinung war; die Sache müsse aber dem Kulturabteilungs-Chef, einem Hofrat Kraut oder Kren oder wie er hieß, unterbreitet werden. Von dem bekam ich dann, was man als verwaltungstechnische Backpfeife bezeichnen könnte. Er schrieb: «Was das Honorar der Musiker betrifft, ist für die Preisverleihungen der Abteilung Kultur ein Betrag von € 100,- pro Person festgelegt, was durchaus dem Umfang der musikalischen Umrahmung angemessen ist. Eine Abweichung von dieser einheitlichen Vorgangsweise ist leider nicht möglich.» Die Veranstaltung auf den 31. 10., den Weltspartag, anzusetzen, war also durchaus stimmig gewesen. Ich beschloß, dem Hofrat einen Brief zu schreiben, des Inhalts, ich verstünde seine Sorge um die Budgetdisziplin in Kunstdingen. Um ihn darin zu unterstützen, schlüge ich vor, die ganze Veranstaltung überhaupt abzusagen, damit würden wir uns auf einen Schlag eine Menge Geld ersparen. Aber gerade da rief mich Martina an, die sich auf den Auftritt freute, um das Programm mit mir zu besprechen. Plötzlich dachte ich mir wieder, daß es eigentlich nett werden könnte, diesen Abend mitsammen zu bestreiten. So schrieb ich dem Hofrat keinen Brief.
Da in dem mir mitgeteilten Programmablauf, wie üblich, auch eine Laudatio, zu deutsch Lobhudelei vorgesehen war, bat ich meinen alten Freund Alfred, selbige zu halten. Er versteht von Literatur eine Menge, aber nicht nur von dieser, nach der Weisheit, daß, wer nur von der Literatur etwas versteht, auch von dieser nichts verstehe, aber schmähohne, wie man in meiner Jugend sagte, Alfred ist eine Singularität, nämlich ein echter, heute lebender Universalgelehrter (was wiederum eine andere Geschichte wäre), und im übrigen sagte er gerne zu. Ich teilte dies am 9. Juli der Frau Thaler mit und hielt die Sache damit für erledigt. Am 4. September erreichte mich eine E-Mail von seiten der Frau Berger, betreffend den Versand der Einladungen, der ein Ablaufplan der Preisverleihung angefügt war. Diesem war zu entnehmen, daß die Laudatio von R. R. gehalten werden würde. Das ist ein weiterer alter Freund, so weit man noch Freunde hat, sind sie freilich fast alles alte. Aber vielleicht, dachte ich mir, ist es ein Irrtum, vielleicht haben sie den Namen bloß von einem Musterformular so stehen lassen. Sonst hätte mir schon längst irgendwer etwas davon gesagt.
Ich schrieb an Frau Berger: «Auf dem beigelegten Ablaufplan steht R. R. als Laudator genannt. Ich habe der Frau Thaler schon länger Herrn A. T. genannt, von R. R. war nie die Rede, auch von Ihrer Seite nicht. Ich bitte diesen Irrtum noch zu korrigieren.»
Am 10. September schrieb mir Frau Berger: «Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 7. 9. teile ich mit, dass es sich beim Laudator um keinen Irrtum handelt. Wie mir Frau Dr. R. am 11. Juli mitgeteilt hat, wurde in der Kulturbeiratssitzung für Literatur, Darstellende Kunst und Film Herr R. R. als Laudator für den Otto Grünmandl Literaturpreis festgelegt. Herr R. R. wurde von der Abteilung Kultur bereits im Juli davon in Kenntnis gesetzt und er hat sich bereit erklärt, die Laudatio zu halten.»
Jetzt hatte ich unverhofft zwei Lobredner, von denen ich nur einen gebrauchen konnte. Der, den ich eingeladen hatte, war praktisch hinter unserem Rücken und schon bevor ich ihn einlud, amtlicherseits wieder ausgeladen worden. Ich kam mir verraten und verkauft vor und in einer Zwickmühle von ausgesuchter Blödsinnigkeit. Zum zweiten Mal überlegte ich ernsthaft, die Sache noch abzublasen, aber inzwischen freuten sich schon zu viele Leute drauf, nicht zuletzt ich selber, wenigstens die meiste Zeit. Es ging nicht mehr, jedenfalls nicht für jemanden wie mich, der das Gefühl, ja die Gewißheit hat, in seinem Leben schon genug Leute brüskiert zu haben, und ohne Not niemanden mehr brüskieren will. Also Augen zu und durch. Erstens Alfred anrufen. Wenigstens hatte er noch nicht angefangen, etwas zu schreiben, und zeigte sich fast ein wenig erleichtert darüber, daß der Kelch dieses öffentlichen Auftritts an ihm vorübergegangen war.
Der große Tag, also der Abend des Weltspartags rückte näher und näher. Da kam wieder ein Anruf von der Kulturabteilung. Ob es mir gleich sei, daß der auf 18 Uhr angesetzte Beginn nun auf 19 Uhr verlegt werde, denn man habe der Frau Landesrätin, die mir den Preis überreichen würde, unerwartet einen Flug umgebucht, sie könne sonst nicht rechtzeitig hier sein. Die Einladung habe man halt neu drucken müssen. Das sei auch schon geschehen. Natürlich machte es mir nichts aus. Ich verkniff mir eine Bemerkung hinsichtlich der allgemeinen Kostenexplosion, der wir da beiwohnten. Ich wurde stündlich härter im Nehmen.
Krethi, Plethi und auch sonst alle (insbesondere alle alten Freunde, siehe oben) sahen dem Abend mit gespannter Erwartung entgegen. So freute auch ich mich, denn viele von diesen alten Freunden sehe ich eigentlich nie mehr, was ich nie lebhafter bedaure als an solchen Abenden, wenn dann wieder keine Zeit bleibt, ein wenig über die früheren und auch die gegenwärtigen Zeiten zu plaudern.
So zogen wir uns also ein ordentliches Gewand an, auch die Kinder wurden nach Maßgabe des Möglichen herausgeputzt, geschnäuzt und gekampelt, und wir stiegen ins Auto und fuhren nach Hall. Wir kamen gerade rechtzeitig, die für Zwischenfälle aller Art eingeplante Reserve-Viertelstunde hatten wir mit fruchtloser Parkplatzsuche vertan. In einer Stadt, die man selten besucht, mag sie auch noch so klein sein, findet man nie einen Parkplatz. Erst ganz zuletzt kamen wir drauf, daß ein solcher sich direkt vor dem «Salzlager», dem Veranstaltungsort, befand.
Es war dann alles wie gehabt, zunächst wenigstens, also halb so schlimm. Der Kulturstadtrat von Hall zeigte sich sehr stolz, daß diese bedeutende Veranstaltung in seinen bescheidenen Räumlichkeiten abgehalten werde, wo doch der Landhaussaal in Innsbruck viel schöner sei. Die Landesrätin sagte dann, daß dieser Saal hier in Hall doch auch sehr schön sei, und dann zu mir respektive über mich, daß ich in meiner schriftstellerischen Tätigkeit nie jemandem nach dem Mund geredet hätte. Hieß das im Umkehrschluß, daß alle anderen das dauernd taten? Und hieß es im Klartext: Dreißig Jahre haben wir unser bestes getan, auf daß du endlich den Mund hältst, und jetzt bist du immer noch nicht still? Oder vielmehr: Dreißig Jahre usw., jetzt kriegst Du dafür einen Preis, daß Du so brav gegen uns durchgehalten hast? Dann gab sie noch der Hoffnung Ausdruck, daß das Preisgeld, 5000 Euro, steuerfrei, weil für Lebenswerk, mich zu weiteren poetischen Aufschwüngen und Höchstleistungen aller Art beflügeln möge.
Es folgte die Lobrede von R. R., der seine Sache gut machte, wenn auch klar ist, daß Alfred das Publikum von meiner großen Bedeutung noch mehr überzeugt hätte, weil er nämlich nicht nur ein Universalgelehrter ist, sondern auch ein rhetorischer Perfektionist, einer von der Sorte, die die Rede frei hält, von dem einstudierten Text dann extemporiert und am Ende ein längeres lateinisches Zitat fehlerfrei in den bereits ehrfurchtsstarren Saal schmettert.
Daraufhin dankte ich mit einer kleinen Rede (ungefähr dem ersten Teil dieser Geschichte entsprechend), dann überreichte die Landesrätin mir die Urkunde, in Blitzlichtgewittern, versteht sich. Zwei oder gar drei Fotografen waren gekommen und dokumentierten, wie die Landesrätin und ihr Preisträger hochkonzentriert in die Kameras lächelten. Sie (die Urkunde) hatte das Format A3 quer, war in rotes Lederimitat gebunden und hatte innen eine mit großen kalligrafierten Pseudofrakturlettern beschriebene Seite, eine einzige, mehr braucht es für eine solche Urkunde natürlich nicht. Unsere Kinder klassifizierten sie deshalb unter «Speisekarte». Neben dem Landeswappen pragte auf dem Deckel der Schriftzug tirol - unser land.
Dann durften wir zum Buffet, danach durfte ich noch eine kleine selberverfaßte Geschichte vorlesen, und wiederum danach ging es erst richtig los. Wir alle hatten das Programm gelesen, aber niemand hatte es ernst genommen. Denn jetzt unternahm es das kulturelle Hall in Tirol, uns mit Otto Grünmandl bekannt zu machen, und zwar von Grund auf, von der Wurzel her, also im Wortsinn radikal. Ich habe Otto Gründmandl gern gemocht, unzählige Male haben wir uns in seinen Programmen halb schiefgelacht und kannten sie am Ende fast auswendig. Aber nun, viele Jahre später, mußte ich unfreiwillig das ganze Ausmaß seiner literarischen Ambition kennenlernen, seine, wie man so schön sagt, Neigung zur ernsten Literatur, oder sagt man hier besser schöne? Nein, ernste, schrecklich ernste, schreckliche, mit diesem Schönen waren wir nicht bei des Schrecklichen Anfang gelandet, sondern schon mitten darin. Eine Stunde lang. Oder eineinhalb. Auch die lustigen Sachen, die die zwei zu dem Anlaß engagierten Schauspielerinnen vortrugen, kamen aus ihrem Munde nicht so lustig heraus wie damals aus dem des seither Verstorbenen. Aber vorallem war es nun neun Uhr, es wurde halb zehn, und es nahm kein Ende.
Hinten hörte ich Leute aufstehen und gehen, alte Freunde, denn das ganze Publikum bestand aus alten Freunden, die meinetwegen gekommen waren, ein paar davon hatte ich noch nicht einmal begrüßen können, so kurz war die Pause ausgefallen, weil wir ja wegen des umgebuchten Flugtickets der Landesrätin schon eine Stunde später angefangen hatten. Frau und Kind waren nach meinem Auftritt entschwunden, die Kinder mußten schließlich irgendwann ins Bett, das sah jeder ein. Die Landesrätin war längst weg, sie hatte noch woanders anderes zu eröffnen gehabt. Bloß ich war noch hier, hier in der ersten Reihe, ich konnte nicht gut aufstehen und gehen, normalerweise hätte ich das jederzeit getan, aber hier? Schließlich war es mein Abend, oder? Nein, es war eine Grünmandl-Groteske aus dem Nachlaß, die hier von seinen größten Verehrern in Szene gesetzt wurde, mit mir und meinen ohnehin nicht übermäßig zahlreichen Fans als ahnungslos in die Falle gegangenen Geiseln. Die Grünmandl-Agenten, also der Moderator und die zwei Schauspielerinnen (aber die organisierende Frau Thaler steckte mit denen sicher unter einer Decke) saßen ungerührt auf dem Podium und spulten eine Nummer nach der andern herunter. Es wurde dreiviertel zehn, es wurde zehn, kurz vor zehn wurde die letzte Nummer angesagt, die kurz nach zehn endete. Kurzer Beifall, ich stand auf, es war vollbracht, ich war geschafft, ich war mit den Nerven am Ende, ich war nach einer langen Tauchfahrt auf dem Grunde des Literatur-Mahlstroms angekommen. Aber wenigstens war es endlich aus. Doch halt! Der Moderator, dieser Rundfunkmensch, der seine literarische Leiste immer mit diesen italienischen Erzählern der Gegenwart vollstopft, rief heiter-beschwingt ins Stühlerücken, ohne eine kleine Zugabe würde er uns nicht gehen lassen.
Es gab also noch eine kleine Zugabe. Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Text, der irgendwann Ende der siebziger Jahre die Runde machte, ein wirklich oder angeblich der deutschen Bundespost entstammendes Schriftstück, das für den Amtsgebrauch den Unterschied zwischen Wertsack und Wertbeutel erklärt und damals, also zirka 1978, sehr lustig gewesen war. Jetzt, in dieser angespannten, ja verzweifelten Lage war er, abgesehen davon, daß er gar nicht von Grünmandl war, nur eines: lang. Provozierend lang. Man kann sich nicht vorstellen, wie lang ein paar Zeilen unschuldigster deutscher Amts-Prosa werden können. Ungefähr so: man muß schon äußerst dringend aufs Klo, welches besetzt ist, und der Zug fährt wegen einer Baustelle immer langsamer in den Bahnhof ein, wo man wird umsteigen müssen, immer noch langsamer, und bleibt am Ende knapp vor demselben, noch auf freier Strecke, stehen und fährt nie wieder weiter.
Irgendwelche für Wohlverhalten zuständige Synapsen in meinem Hirn, beziehungsweise tragende Elemente in meinem Ätherleib verschmorten. Ich war plötzlich innen ganz leer und kalt, zu allem entschlossen wie ein Tyrannenmörder vor der Tat. Ich stand auf, ich ging aus der ersten Reihe nach hinten, während die zwei leeren Biergläser, die ich trug, weithin hörbar an einander klangen, und blieb ganz hinten immerhin stehen, bis die zwei endlich fertig waren mit ihren Wertbeutelsackfahnen und dem ganzen Unsinn, und dann ging ich als erster die lange Stiege hinunter ins Foyer, wo das restliche Buffet noch auf Verzehrer und Austrinker wartete, die Pause war ja so kurz gewesen, daß nicht einmal das Buffet leergefressen worden war, was das mindeste gewesen wäre, alles nur, um diese, man wird ja schon bernhardartig, bernhardinerisch geradezu, um diese Publikumsniederschmetterung durchziehen zu können, doch es half nichts, alle hatten genug, flüchteten (womöglich war draußen beim Eingang noch eine Spontanlesung mit Otto Grünmandls Frühwerk vorbereitet, nichts wie weg), ich stand wie ein Kondolenzempfänger da und alle sausten schnell händedrückend an mir vorbei.
Wenigstens drei, vier sehr alte Freunde blieben noch da. Wenigstens ein kleines Bier tranken wir noch in diesem ungastlichen Foyer, wenigstens wurde meine Lesung extra honoriert, sogar 50 Euro mehr bekam ich als vereinbart, und ganz am Schluß, als Martina und Stefan sich netterweise bereit erklärten, mich noch nachhause zu uns in den Wald hinauf zu führen, hätte ich beinahe die Urkunde und den Blumenstrauß liegen lassen. Die Blumen hatten mir Roswitha und Franz mitgebracht, eine besonders nette Geste. Vom Amt bekommen bei solchen Gelegenheiten ja nur weibliche Künstler einen Blumenstrauß. Weibliche Künstlerinnen muß man heutzutage sagen, was mir aber immer noch nicht locker über die Lippen kommt.
Es war auch praktisch, daß Martina und Stefan mich in ihrem Auto nachhause fuhren; sie hatten die versprochenen zwei Kisten Äpfel im Kofferraum, die ich somit gleich vor dem Haus ausladen konnte. Sie bekamen als Gegengeschenk ein mittelgroßes Prachtexemplar (ca. 12 kg) aus der aktuellen Kürbis-Rekordernte. Dann fuhren auch sie heim, und ich setzte mich noch für ein paar Minuten auf den Balkon und schaute auf die schwarze Reihe der Fichten vor dem Haus und sinnierte über das Anstrengende im Leben, bevor ich mich endlich zu Bette begab.
Das Preisgeld werde ich diesmal in die Ernährung unserer Kinder stecken, in erster Linie in den Kauf von Laugenbrezen. Wenn wir davon ausgehen, daß wir pro Jahr und Kind ungefähr 170 Laugenbrezen brauchen, dann haben wir zumindest auf diesem Gebiet für die kommenden zehn Jahre ausgesorgt. Und dann kriege ich sowieso den Nobelpreis. Über die dort in Stockholm herrschenden Modalitäten werde ich Sie zu gegebener Zeit informieren.
Soviel zur finanziellen Seite des Dichterlebens. Über die künstlerische reden wir dann ein andermal.
(2015)
Herbstwald Serles
Öl/Lw., 40 x 50 cm, 2020
Mandlspitze und Umgebung
Öl/Lw., 40 x 80 cm, 2020
Venet gegen Süden, 2020, Öl/Lw., 40 x 80 cm
Tirol (Hochaster Alm), 50 x 70 cm, Öl/Lw., 2019
Patscher Kofel, vom Grauen Stein aus, 40 x 50 cm, Öl/Lw., 2020
In den letzten Jahren begab sich in der Kunst Seltsames, eine Umkehrung des Gewohnten, wie es schien. Zuvor, seit ein oder zwei Jahrhunderten, stand sie unter dem Zeichen der Freiheit, sah ihre Aufgabe im Überschreiten aller denkbaren Grenzen, die von den irdischen Mächten gezogen waren, im Angriff auf Herrscher aller Art, zuvorderst auf das Geschmacksurteil der braven Bürger, die im Endeffekt und gewissermaßen zum Ausgleich dafür zu sorgen hatten, dass die Kasse stimmte. Zuvor mussten sie aber ordentlich vor den Kopf gestoßen werden, épater le bourgeois, wie das auf Französisch so schön heißt. Kurz, die Kunstgeschichte war immer auch eine Geschichte des Ringens mit der Zensur. Seit einiger Zeit nun häufen sich die Vorfälle, bei denen es Künstler selbst sind oder ein (zumindest theoretisch) kunstaffines Publikum, die zum Verbot oder gar zur Zerstörung eines Kunstwerks aufrufen oder zur gesellschaftlichen Ächtung des Künstlers, weil er sich danebenbenommen hat oder dies jedenfalls jemand von ihm behauptet. Dabei gehörte Mißbetragen aller Art bis vorgestern noch in den Grenzüberschreitungs-Kanon, dem der moderne Künstler verpflichtet war. In einem sehr lesenswerten Bändchen beschreibt der "Zeit"-Redakteur Hanno Rauterberg den hier skizzierten Komplex in der ihm eigenen besonnenen und kenntnisreichen Art, nicht ohne der Chose auch die ihr innewohnenden heiteren Seiten abzugewinnen.
So wird etwa dem Fotorealisten Chuck Close eine bedeutende Retrospektive gestrichen (wegen "unpassender" Bemerkungen zu seinen Modellen über deren Aussehen), naturgemäß ohne Gerichtsurteil: der digitale Mob, der sich zu solchen Gelegenheiten formiert, funktioniert nach dem guten alten Wahrspruch "Mir wern kan Richter brauchen". Da waren die viktorianischen Spießer korrekter; sie machten Oscar Wilde erst nach einem diesbezüglichen Gerichtsurteil zur Schnecke. Es ist ein durchaus gemischtes Bild, das hier entsteht. So führte etwa die Übermalung eines Gedichts von dem bis dahin eher mäßig berühmten Lyriker Ernst Gomringer auf der Wand einer berliner Hochschule plötzlich zu dessen rapider, wenn auch sehr vorübergehender Berühmtwerdung.
Auch recht altertümlich wirkende Kriterien gelangen zu neuer Geltung wie die irgendwie, wie man dachte, doch seit längerem verpönte Rassen- oder Stammeszugehörigkeit. Unter dem Stichwort "cultural appropriation" haben etwa farbige Künstler begonnen, ihren weißen Kollegen das Recht abzusprechen, sich "schwarzer" Themen anzunehmen. Der Universalitätsanspruch der Kunst erlischt unversehens. In letzter Konsequenz dürfte der Südburgenländer sich ausschließlich nur noch mit dem Südburgenland und den dort bei ihm und seinesgleichen vorkommenden Seelenzuständen befassen. Als Grundregel kann gelten, dass der (vorwiegend alte) weiße Mann endlich den Mund halten und sich tunlichst von der Bühne entfernen sollte. Wenn man selber ein solcher, wenn nicht alter, so doch älterer weißer Mann ist, scheint einem dieses lustige Treiben gelegentlich eher bizarr, wiewohl man es ja schon seit der Zeit kennt, als man noch ein junger weißer Mann war und sich nicht nur den damals neuen Sprechkodex in bezug auf die werktätigen Massen, die Frauen sowie Farbige und Minderheiten jeglicher Art angewöhnen mußte, sondern einem auch zunehmend das Recht abgesprochen wurde, für irgendwen außer sich selber zu sprechen. Und selber gehörte man dummerweise der einzigen Gruppe weit und breit an, die keine verfolgte Minderheit war, sondern das Gegenteil.
Eben dies hat sich nun unter dem Begriff "cultural appropiation" zugespitzt. So als der (weiße) US-Amerikaner Sam Durant 2012 für die "Documenta" unter dem Titel "Scaffold" eine Holzkonstruktion baute, die an Hinrichtungen, unter anderem eine von Dakota-Indianern im 19. Jahrhundert erinnern sollte. Als er dieselbe in Minneapolis nochmals aufstellen wollte, bekamen die Nachfahren jener Indianer, von denen da die Rede war, Wind von der Sache – und reagierten bilderbuch-, d.h. indianermäßig. Abgesehen von Plakaten mit der Inschrift "Unser Völkermord ist nicht Eure Kunst" wurden 200 Dollar für den Skalp des Künstlers ausgelobt; nicht gerade eine Menge Geld. Das mit dem Skalp fehlt merkwürdigerweise im diesbezüglichen (englischen) Wikipedia-Eintrag. Offenbar wollten die Sittenwächter dem Wikipedia-Leser nicht nahelegen, daß Edle Wilde sich tatsächlich als solche betragen hätten, nach dem althergebrachten Schema "Glasperlen gegen Goldbarren" – zwar edel, aber auch ein bißchen doof.
Abgesehen davon scheint es mir vollkommen einsichtig, daß einem sozusagen persönlich Betroffenen, in diesem Fall eben einem Dakota, der Kragen platzt, wenn der handelsübliche postmoderne Weltkünstler, der mit moralischer Allzuständigkeit sich die Anliegen sämtlicher denkbarer unterdrückter Minderheiten aneignet, nun derjenigen zuwendet, der man zufällig selber angehört. Für einen empfindsamen Zeitgenossen hat das doch etwas schwer Aushaltbares bis rundheraus Obszönes. Das Moralische, das seit eh und je ein integraler Bestandteil künstlerischer Diskurse war, wie versteckt auch immer, wird hier und heute zum Alleinstellungsmerkmal: jede Documenta als gigantische NGO-Veranstaltung für das Gute in dieser Welt. So oder so, egal wie das jeweilige Event oder auch die ganze Sache mit der Avantgarde-Kunst nun ausgeht, es hat sich jedenfalls etwas im Fundament bewegt, dessen Ausmaße und Auswirkungen noch nicht abzusehen sind.
Hanno Rauterberg, Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Edition suhrkamp 2725, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 142 S.
Im Zeitalter der perfekten – oder fast schon perfekten, viel besser wird es nicht mehr werden (nämlich mit Rücksicht auf unsere menschliche Auffassungsgabe) – Reproduktionstechnik scheint es völlig sinnlos geworden, noch irgendwo hinzureisen, um Bilder im Original zu sehen, sehen zu dürfen! Es ist im Ernstfall dann doch das Dürfen. Denn erstaunt und beschämt muß man immer wieder von neuem zugeben, daß es ein Glück ist, eine Gnade, wenn es einem widerfährt: ein Bild im sogenannten Original zu sehen. Warum, weiß ich eigentlich nicht, es hängt wohl mit dem Religiös-Auratischen der Kunst zusammen, und wenn wir das innig genug empfinden, dann geht es auch nur so: du mußt das Bild "in echt" sehen, sonst funktioniert es nicht oder nur in der Art der Reproduktionen, eine Art Inhaltsangabe, "told by an idiot, signifying nothing".
So vor kurzem in Basel, wohin es mich im Zuge eines Alte-Freunde-Treffens verschlug und dessen zweiter Höhepunkt (nach einer Tageswanderung am Rhein entlang) der Besuch des Kunstmuseums Basel war, wieder geöffnet nach längeren Jahren der Renovierung und mit einem Neubau auf der anderen Straßenseite ergänzt. Das mir wie kaum noch zuvor in meinem inzwischen doch schon über 60 Jahre währenden Leben den Eindruck vermittelte, für seinen Bau sehr viel Geld, eher noch: unfaßbar viel Geld verschlungen zu haben. Wie ein Gebäude, seiner Außenhaut nach im wesentlich aus Stein, teurem, teurem Stein bestehend und ähnlich Anorganischem, stinken kann, nämlich nach Geld, ein großes Rätsel. Das aber nur nebenbei.
Zum Anlaß jedenfalls zeigte man dort neben einem großartig ausgedachten und realisierten Freundschaftsspiel unter dem Titel HOLA PRADO! (nordische und südische alte Meister, nach Motiven zueinandergesellt, aus eigenen und den Beständen des Prado) den neuen Meister Cézanne, und zwar unter dem Gesichtspunkt seiner Skizzenbücher, von denen das Museum viel oder viele, eine Menge jedenfalls an Zeichnungen besitzt. (Sohn Cézanne verklopfte die Skizzenbücher optimal gewinnbringend, nachdem sie in einzelne Blätter zerschnitten worden waren, welcher Vandalismus komischerweise nirgendwo in der Ausstellung gebrandmarkt wurde, außer vielleicht in einem sehr kleingedruckten, von mir unbemerkten Eck.)
Kurzum, in Raum nach Raum konnte man sich die in der Regel sehr kleinformatigen Seiten aus des Meisters Skizzenbüchern anschauen, in der Diktion der Aussteller: "Die kleinformatigen Skizzenbücher gewähren einen intimen Einblick, weil sie nie für ein Publikum gedacht waren. Sie dokumentieren einen zwanglosen Prozess des Suchens und Experimentierens. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat Cézanne darin die Zeichnung und deren Rolle grundlegend hinterfragt, indem er gängige Regeln missachtete und Gewohnheiten umging. Ganze Reihen von Studien nach der Natur und Kopien nach Alten Meistern von der Antike bis zu Eugène Delacroix zeigen, wie die wiederholte Beschäftigung mit einem bestimmten Motiv Cézanne immer wieder neue Optionen der Darstellung entwickeln liess."
Tatsache aber ist, oder: die Wahrheit ist vielmehr: daß man in diesen liebevoll auch wieder in die richtige Reihenfolge und Position gebrachten Skizzenbuch-Seiten von anno dazumal überhaupt nichts sieht von einem "zwanglosen Prozess des Suchens und Experimentierens" undsoweiter. Sondern man wird – und es ist nachgerade peinlich und an der Wort- und Reaktionslosigkeit des Publikums auch wahrzunehmen gewesen – auf das banale Faktum gestoßen, daß Cézanne im landläufigen Sinne einfach das war, was seine bornierten zeitgenössischen Kunstrichter auch erkannten: er war zeichnerisch außergewöhnlich unbegabt, was man bis heute abschätzig, ja hohnvoll einen Dilettanten nennt. Die Skizzenbücher und die dazu aufgehängten Entwürfe und Entwurfsvarianten zeigen uns jemanden, der nicht experimentiert und hinterfragt, sondern in einem fort scheitert. Etwa wie beim Schreiben Kafka unablässig scheitert, abbricht, neu anfängt, wieder scheitert undsoweiter.
Und das Bedeutende, geradezu Niederstreckende der cézanneschen Kunst liegt nicht in diesem unablässigen und jahrzehntelang durchgehaltenen Scheitern, sondern in dem Resultat, das man hier in der Ausstellung gar nicht sieht, außer in ein paar kleinen Bildern, die auch noch dahängen, damit das ganze nicht ganz so niederschmetternd ausschaut, in den triumphalen Cézanne-Bildern, die es eben gibt, jenen, wo seine "Methode" triumphiert, die aus nichts bestand als dem Durchhalten gegen das tägliche, ja stündliche Scheitern.
Was wir wissen, aber in dieser Skizzenbuchausstellung nicht sehen können außer momentweise, also kaum, ist der Triumph des Dilettantismus über die akademische, also ewig regierende Methode, die die Kunst immer als die Realisierung einer Konvention auffaßt, also dessen, wovon man schon im voraus weiß, was man dann gesehen haben wird. Daß der Dilettantismus, zumindest in den Jahrzehnten 1860–1905, über die extremste Form von Akademismus, nämlich die zeitgleiche, nach ziemlich kurzer Zeit so vollständig den Sieg davonträgt, daß man von der damals regierenden Malerei schlicht nichts mehr weiß (im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo man "einfach" zu einem Zeitpunkt anders zu malen anfing als bisher), ist doch fast eine Singularität.
Nicht ganz. Denn der Götterhimmel dieser Jahre, der wohl bedeutendsten Jahre für die Kunst nach der Meinung unserer Zeit, ist neben dem Gott Cézanne und dem Gott van Gogh, bei dem die Sache sehr ähnlich liegt, noch mit einem Halbgott gesegnet, der dem ganzen, man ist versucht zu sagen "Das Sahnehäubchen aufsetzt", nämlich dem Monsieur Rousseau, genannt Le douanier, der Zöllner. Das gezierte "Monsieur" habe ich bloß hingeschrieben, weil der Vorname, ich glaube Henri, mir im Moment nicht einfiel, und Zöllner sagt man eben, weil so viele Leute Rousseau heißen, heißt das nicht "der Rötliche" oder so?, kurzum, diese Person ist merkwürdigerweise eine Art Spaßmacher am Rande des diesbezüglichen Götterhimmels geblieben, dabei, wenn man eins dieser Bilder wieder zu Gesicht bekommt (diesmal bloß als Reproduktion in einem Buch von Timothy Hyman, The World New Made. Figurative Painting in the Twentieth Century, Thames & Hudson 2016), dann haben sie genauso wie die Cézannes dieses Zwingende, Niederschmetternde einer idiosynkratischen, nicht Vision, nein: Sicht, Seh- und Malweise, die aus keiner Wahl herkommt ("Versuchen wir es einmal impressionistisch, das macht man jetzt so"), sondern aus dem schieren So-Sein und Nicht-anders-Können, das aber nicht passiert, sondern Ergebnis langer Suche und vieler Mühe ist.
Zuständige Instanz hiebei ist mein eigenes zeichnerisches Ich, das aus leidvoller Erfahrung genau weiß, wie es ist, wenn etwas nicht wirklich gelingt und man immer verbissener und deshalb aber um nichts besser geworden versucht, es doch noch hinzubiegen oder am Ende doch wegwirft. "Wenn ich nur wüßte, wie die das hingekriegt haben" läßt Claude Simon seine Figur Cézanne in "La corde raide" (1947, dt. "Das Seil", 1964) sinnieren; Cézanne nannte das, was ihm nicht und nicht gelingen wollte, bekanntlich "realisieren", ohne das näher zu bestimmen oder zu beschreiben; "die" waren die alten Meister, und Simon war selber Maler gewesen oder blieb es auch eigentlich weiter, nachdem er Schriftsteller geworden war, und wußte, wovon er redete.
Man weiß also, wenn man es selber probiert hat, wie es ist, wenn man etwas "hinkriegt" oder auch nicht. Damit sind wir bei der Frage, wie weit einer seiner Besonderheit entfliehen kann, indem er experimentiert, oder vielmehr der Nichtbesonderheit entflieht und zu seiner Unverwechselbarkeit gelangt, indem er, was also? Immer wieder versucht, von vorne beginnt, sich verbeißt und nicht weiterkann, und wo er nicht weiterkann, es trotzdem nocheinmal versucht.
Da sind wir dann bei der ungeschriebenen Grundregel des zeitgenössischen Kunstbertriebs, der nicht von ungefähr Betrieb heißt: du kannst machen, was du willst, und wie du willst, es darf bloß nicht patschert ausschauen. Bei dem generell professionellen Auftreten und natürlich auch Produzieren der heutigen, die Künstler sind, so als wäre es die vordringliche Aufgabe der Kunst, professionell aufzutreten, als würde das irgendwen gesteigert interessieren, sondern an einer merkwürdigen, manchmal bis ins Perverse gehenden Wahrheitssuche teilzunehmen, so wie wir es an der vergangenen Kunst als Selbstverständlichkeit wahrnehmen und an der zeitgenössischen nur als Peinlichkeit erführen, wenn es uns denn begenete. Womit wir wieder beim alten Henri "der Zöllner" Rousseau angelangt wären. Niemand war seinen Zeitgenossen peinlicher als er, peinlich bis zum Lachkrampf, selbst den paar Malern, die ihn toll fanden. "Welche Liebe, welche Großzügigkeit, welch ein Geschenk eines reinen Herzens, welch völliges Fehlen von Falschheit" schrieb Robert Delaunay über dieses Wunder von einem wunderlichen Maler. Und wie kommt solch ein Wunder zustande? Da es ein Wunder ist, wissen wirs nicht.
Wiener Zeitung/ Extra, 2. 9. 2017
www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/914133-Dilettantische-Genies.html
Seegrube, Schnee, 60 x 70 cm, Öl/Lw., 2019
Hungerburg, Abendlicht, Schnee, 60 x 90 cm, Öl/Lw., 2019
Sandestal, September. 60 x 70 cm, Öl/Lw., 2018
Juliane, 40 x 40 cm, Öl/Lw., 2018
Theresia, 40 x 40, Öl/Lw., 2018
Bettelwurf, Abendlicht. 47 x 92 cm, Öl/Lw., 2019
Am Strand (Whitby), 70 x80 cm, Gouache und Öl/Lw., 2018